Generationenporträts
Kurz nach dem Beginn der Ölkrise 1973 beschloss die damalige Bundesregierung einen Anwerbestopp, der sämtliche Anwerbeländer betraf. Damals lebten rund vier Millionen damals sogenannte "Gastarbeiter:innen" in Deutschland, davon rund 600.000 Türk:innen. Vor die Wahl gestellt, entweder dauerhaft in die Türkei zurückzukehren oder aber in Deutschland zu bleiben, entschieden sich die meisten von ihnen für ein Leben in Deutschland. Dies war der Beginn der nachhaltigen türkischen Einwanderung in die Bundesrepublik.
Die Türken bekamen eine "Hau-ab-Prämie"
Als die Bundesrepublik 1973 einen Anwerbestopp verhängte, lebten etwa vier Millionen "Gastarbeiter" in Deutschland. Rechtsradikale Parteien wie die Republikaner und die NPD hetzten. Die Bundesregierung wollte ihre Rückkehr 1980 bis 1983 mit einem finanziellen Anreiz forcieren. Die Türken nannten das damals "Hau-ab-Prämie": Es gab einige tausend D-Mark und eine Auszahlung der angesparten Rentenbeiträge nach einem halben Jahr. Trotzdem blieben viele in Deutschland. Heute leben etwa 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland.
© Susanne Güsten, Margit Hufnagel, Augsburger Allgemeine
Inzwischen lebt bereits die fünfte Generation der einstigen „Gastarbeiter:innen“ in Deutschland. Noch immer stellt sich Vielen die Frage nach Identität, Heimat und Perspektiven.
Es ist eine gemeinsame Geschichte
Die Frage „wo kommst du ursprünglich her?“ – alle Menschen mit Migrationsgeschichte kennen sie. Im Grunde keine Frage, sondern ein Hinweis: Zugehörigkeit ist immer noch nicht selbstverständlich. Die Diskussion darüber, ob ein Bundeskabinett im Jahr 2021, also über 60 Jahre nach den ersten Anwerbeverträgen, ohne einen Minister oder Ministerin mit Einwanderungsbiografie überhaupt sein kann, zeigt: es ist dringend nötig, die Migrationsgeschichte in diesem Land als eine gemeinsame zu betrachten. Es ist nicht nur die Geschichte der Menschen, die vor über 60 Jahren in Mainz, Stuttgart, Köln oder Berlin ankamen. Es ist nicht nur die ihrer Kinder und Enkelkinder. Es ist eine gemeinsame Geschichte. Und damit eine deutsche Geschichte.
Anna Koktsidou, SWR - Beauftragte für Vielfalt und Integration
„Kismet – Eine Geschichte zwischen Schicksal und Sehnsucht“
Viele Familien jedoch sind fest verwurzelt. Sie sind stolz auf die Geschichte ihrer Familie und ihrer Herkunft aus zwei Kulturen. Sie haben erfolgreich Ausbildungen absolviert oder studiert, wie etwa die 25-jährige Merve Uslu. Ihre Großeltern kamen 1964 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Ihr ist es wichtig, ihre Wurzeln zu kennen und zu ihnen zu stehen. „Die Verortung zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen und zwei Welten gab mir die Zuflucht, nach der ich mich schon immer sehnte“, sagt sie.
Merve studierte Ethnologie und Soziologie an der Universität Heidelberg, singt und arbeitet als Integrationshelferin bei der Stadtverwaltung in Ludwigshafen. Ihre Liebe gehört der Musik. Sie schreibt und komponiert ihre Songs selbst, auf Türkisch, Englisch oder Deutsch. Sie mag es, Sprachen miteinander zu vermischen und stellt sich in einem ihrer Lieder die Frage: Was wäre gewesen, wenn die Großeltern nicht nach Deutschland gekommen und in der Türkei geblieben wären?
Dieses Thema stellte sie auch in den Mittelpunkt ihrer Bachelorarbeit über transnationale Familienbeziehungen und produzierte den Dokumentarfilm „Kısmet - Eine Geschichte zwischen Schicksal und Sehnsucht“. Sie reiste dafür in die Türkei und erzählt die Geschichte ihrer Großväter und ihrer Brüder. Jene, die als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind aber auch jene, die damals im Dorf zurück geblieben sind.
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Zilfinur Polat – Lackiererin, Fotografin, Influencerin und Mutter
Zilfinur Polat ist 26 Jahre alt, spricht pfälzisch, hochdeutsch und türkisch und lebt seit ihrer Geburt in Hagenbach in der Südpfalz. Die junge Mutter ist ein Multitalent: Sie produziert TikTok-Videos mit türkischen Kochrezepten – und zwar in ihrem pfälzischen Dialekt. Sie fotografiert Hochzeitspaare. Und sie lackiert Lastwagen bei Mercedes-Benz, "beim Daimler" in Wörth so wie fast ihre ganze Familie. Sie fühlt sich wohl, ist gut integriert und hat viele deutsche Freunde. Aber Ausgrenzung und Rassismus hat sie auch erlebt. So wie ihre 47-jährige Tante und ihr 77-jähriger Großvater.
Sie ist eine der wenigen Frauen überhaupt, die den Beruf der Lackiererin erlernt haben. Zilfinur tritt damit in die Fußstapfen ihres Großvaters, der in den sechziger Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kam. Er war der erste in der Familie "beim Daimler“; später folgten Zilfinurs Vater, Onkel und die meisten männlichen Verwandten. Dass nun auch sie in der Lkw-Fertigung tätig ist, hat in ihrem Umfeld keinen überrascht.
Junus Bulut kam 1968 in die Südpfalz und wollte nach fünf Jahren wieder in die Heimat zurückkehren - fast dreißig Jahre später wird Enkelin Zilfi Nur Polat in Hagenbach geboren. Quelle: SWR aktuell
Unser Tipp: Die neue SWR-Youtube-Serie „naber? Was geht!". Das fragen die Autor:innen starke, erfolgreiche, suchende, kämpfende und leidenschaftliche Frauen die, als Tochter oder Enkelin von ehemaligen Gastarbeiter:innen aus der Türkei Ihre Lebensereignisse und ihren Alltag mit uns teilen.
Jeden Donnerstag um 18:30 Uhr auf Youtube
Cem Özdemir: anatolischer Schwabe und Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft
„Die Geschichte der Gastarbeiter:innen ist nicht ausreichend im kollektiven Gedächtnis unserer Gesellschaft verankert. Dabei hängen so viele Schicksale und Erfolgsgeschichten daran! Wer Deutschland heute verstehen will, muss sich damit befassen.“ (Cem Özdemir, Twitter 19.11.2021)
Özdemir kennt viele Lebensläufe, die dem seinen ähneln: anatolischer Schwabe nennt er sich selbst. Vater Abdullah fand 1963 eine Anstellung in einer Textilfabrik im Schwarzwald. Seine Mutter Nihal, die 1964 nach Deutschland gekommen war, betrieb später eine eigene Änderungsschneiderei. "Mein Vater und meine Mutter sind Anfang der 60er Jahre nach Deutschland gekommen und haben sich hier kennengelernt", sagt der Grünen-Politiker. "Ich bin also quasi ein Produkt des Anwerbeabkommens."
Und dies ist ein Bemerkenswertes, schaut man auf seine zahlreichen Auszeichnungen und seine politische Karriere, die er 1981 als Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen im Kreisverband Ludwigsburg begann. 40 Jahre später, am 26.09.2021, gewinnt er bei der Bundestagswahl das Direktmandat und widmet es der ersten Gastarbeiter-Generation:
Seine Herzensdinge, die mit seiner Familiengeschichte verbunden sind, erzählt er in der die SWR2 Ausstellung „Meine kleinen Schätze – Geschichten von Migration“.