Lebensgeschichten stehen in keinem Geschichtsbuch…
Die Aufarbeitung, Darstellung und öffentlichkeitswirksame Vermittlung von Erinnerungskultur ist ein seit langem breit diskutiertes Thema. Wie kann man die Vergangenheit, Erfahrungen und Erlebnisse von Menschen wie etwa den Spätaussiedlern, den Russlanddeutschen, darstellen? Gerade vor dem Hintergrund, dass in der Zeit ihrer Deportation in der vom Präsidium der Obersten Sowjets der UdSSR der Erlass »Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen« herausgegeben wurde und der Kommandantur zwischen 1941 und 1955 eine Wissenslücke entstand? Vieles wurde verschwiegen, das Trauma des Stalinistischen Terrors über Generationen hinweg weiter gegeben. Die Ausstellung »Das Russlands-Deutsche-Haus« beantwortet viele diese Fragen durch ihren besonderen Ansatz.
Das Konzept
Den Impuls, eine Ausstellung in Form eines Hauses zu gestalten, geht auf den Aussiedlungsbeauftragten der Evangelischen Kirche in Westfalen, Edgar Born, zurück, der für 280.000 Spätaussiedler in seiner Kirche verantwortlich ist. Er suchte nach einem Weg, auf dem Russlanddeutsche und Deutsche einen gemeinsamen Austausch finden. Die Idee ein Haus zu bauen entstand. Ein Haus, das in vier unterschiedlichen Themenräumen russlanddeutsches Alltagsleben von der Zeit stalinistischer Schreckensherrschaft bis zur Rückwanderung ab 1987 zeigt.
Der methodisch-didaktische Ansatz des Projekts fußt auf der so genannten Aktivierungsmethode, die Born gemeinsam mit russlanddeutschen Beteiligten seiner Gemeinde entwickelte.
Das dreiteilige Konzept beruht auf:
- Einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase an dem jeweiligen Ausstellungsort, in der sich ein Trägerkreis aus Deutschstämmigen und Spätaussiedlern bildet.
- Der Ausstellung als solche. Meist russlanddeutsche ehrenamtliche Mitarbeitende begleiten die Besuchenden durch »ihr Haus«, erklären die Besonderheiten und lassen ihre eigene Lebensgeschichte mit einfließen. Dialoge entstehen mit älteren Menschen, die sich an ihre eigene Lebensgeschichte erinnern, oder mit Studierenden, die die Geschichte der Eltern und Großeltern erfahren möchten, um diese besser zu verstehen.
- Vielseitigen, altersübergreifenden Rahmenprogrammen, etwa Eröffnungsgottesdiensten, Kino mit russlanddeutschen Spielfilmen, Literaturcafe, Russlanddeutschem Theater, Breakdance-Workshops und Sportturnieren.
Seine Nachhaltigkeit erfährt die Aktion durch eine über die Ausstellung hinausgehende Aktivität des örtlichen Trägerkreises, der als »Arbeitskreis Spätaussiedler/Zugewanderte« nunmehr fest etabliert ist.
Wofür steht die Metapher »Haus«?
Der Hausbau zieht sich seit jeher wie ein roter Faden durch das Leben und die Geschichte der Russlanddeutschen. Ob an der Wolga, dem Dnjepr, in Wolhynien, Bessarabien, am Schwarzen Meer, auf der Krim oder am Kaukasus – überall haben deutsche Einwanderer ein Haus gebaut und eine neue Existenz gegründet. Auch nach der Verschleppung aus dem europäischen in den asiatischen Teil der UDSSR 1941 fing man an, ein Haus zu bauen. Nach der Aussiedlung nach Deutschland beginnen Russlanddeutsche auch hier wieder von vorne.
Ein Haus bauen heißt, einen Ort als seine Heimstatt wählen, an dem man die Zukunft erwarten und gestalten will. Es ist die Selbstverpflichtung, an einem fremden Platz heimisch werden zu wollen und schafft ein Dach über dem Kopf und für die Lebensträume.
»Das Russlands-Deutsche-Haus« will in diesem Zusammenhang eine Heimat der Erinnerungen, der Gegenwart und des Verständnisses schaffen.
»Russlanddeutsche brauchen einen Anlass der Erinnerung, denn viele haben ihre Geschichte verdrängt. Die Ausstellung war Impulsgeber. Achtsamkeit entwickelte sich, Vorurteile verschwanden.«
— Edgar Born
In Interviews berichten Ideengeber und Kurator Edgar Born sowie Co-Kurator Reinhard Schott, Integrationsbeauftragter der Evangelischen Kirche der Pfalz und des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche der Pfalz, über ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus elf Jahren Wanderausstellung.