60 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland-Italien

Der 20. Dezember 1955 war für die deutsche Wirtschaft und in Folge für Millionen von Menschen aus den europäischen Anrainerstaaten ein weg- und schicksalsweisender Tag.  Mit einer gewissen Feierlichkeit ist am Dienstag im Palazzo Chigi vom italienischen Außenminister Gaetano Martino und Bundesarbeitsminister Anton Storch das Abkommen über die Beschäftigung italienischer Arbeiter in Deutschland unterzeichnet worden. So lautete einen Tag nach Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens die Nachricht in der Frankfurter Allgemeine Zeitung:


»Ein neuer Abschnitt fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern hat begonnen.«

— Italienischen Außenminister Gaetano Martino


Am 20. Dezember 1955 wurde das erste, bilaterale Abkommen unterzeichnet. Damit sollte von nun an die Zuwanderung italienischer Migranten nach Deutschland über Anwerbebüros der Bundesanstalt für Arbeit in Italien organisiert werden.

Der ursprüngliche Gedanke der Anwerbung konzentrierte sich auf einen zeitlich befristeten Arbeitsaufenthalt der »Gastarbeiter«, um den Arbeitskräftemangel bestimmter Industriezweige im Wirtschaftswunder-Deutschland auszugleichen. Nach Beendigung der Aufenthaltsdauer war ihr Ersatz durch Neuankömmlinge vorgesehen. Dieses so genannte »Rotationsprinzip« ließ sich in der Praxis jedoch auf Dauer nicht realisieren, wie die Entwicklung der Migrationsgeschichte ab Mitte der 1960er Jahre zeigt.  

In der ersten Zeit folgten dem Angebot der Bundesanstalt für Arbeit alleinstehende Männer zwischen 20 und 34 Jahren. Aber auch diejenigen, die verheiratet waren kamen, meist alleine, weil sie nur kurze Zeit in Deutschland arbeiten wollten. Das verdiente Geld sollte die Familie in der Heimat unterstützen. Kaum etwas blieb für das Leben in Deutschland übrig. Mario de Matteis, ein Sozialfürsorger der Caritas, berichtete zu Beginn der 1960er Jahre [1]:

»5,80 DM täglich = 174,- DM monatlich sind für die deutsche Lebensweise nicht viel, aber der Italiener rechnet in ca. 26.000 Lire, von denen in der Heimat seine ganze Familie einen Monat lang leben könnte. Deshalb will der Italiener gern bescheidener leben, um mehr für seine Familie erübrigen zu können.«

Da es keine entsprechenden Wohnungen gab, die an »Gastarbeiter« vermietet wurden, geschweige sie sich eine Wohnung leisten konnten, waren die Männer in Baracken oder Sammelunterkünften untergebracht. »Ein Leben auf drei Quadratmetern«: »Jeder Gastarbeiter hat Anspruch auf ein Bett, einen Hocker, ein Stück Tischplatte, drei Quadratmeter Boden zum Wohnen und zehn Kubikmeter Luft zum Atmen.« [2] Wenn ein Betrieb diese Mindestanforderungen an eine Unterkunft erfüllte, durfte er »Gastarbeiter« einstellen. Sie genügten den Richtlinien. Außerdem war vorgeschrieben, dass Dach und Wände des Quartiers wetterfest sein müssen, und es über eine Waschgelegenheit und eine Toilette in der Nähe verfügt. Die Wohnstätte selbst sollte frei von Ungeziefer sein.

Fotografien der Arbeiter:

Die große Mehrheit der italienischen Gastarbeiter – 1973 lebten ca. 450.000 Italiener in Deutschland – kam aus dem armen, industriell unterentwickelten Süden der Halbinsel.

Der Arbeitsmigration schlossen sich ab den 1960er Jahren auch zunehmend Frauen an, die ohne ihre Familien nach Deutschland kamen.

Die Arbeitsmigrantinnen und -migranten leisteten einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg der deutschen Wirtschaft. Für ihre Integration in die Gesellschaft wurde jedoch viel zu wenig getan. Erst 1965 führte die Bundesrepublik die Schulpflicht für ausländische Kinder ein. Das Wohnungsangebot für Migrantenfamilien beschränkte sich oft auf minderwertige Unterkünfte zu Wucherpreisen.

Vor Schlimmstem wurden sie dank des hohen Engagements der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialer Dienste, wie etwa der Caritas bewahrt, die sich um alle Belange des täglichen Lebens in aufopfernder Weise kümmerten.

Mit dem Anwerbestopp am 23. November 1973 endete die erste Phase der Zuwanderungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland.

Gut zwei Millionen Italiener kamen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit zwischen 1956 und 1972 als Arbeiter in die Bundesrepublik Deutschland. Als Gastarbeiter sollten sie nur eine kurze Zeit bleiben und zum deutschen Wirtschaftswachstum beitragen. Doch viele sind geblieben. Heute leben etwa 560.000 Italiener in Deutschland, davon rund 28.000 in Rheinland-Pfalz und stellen somit nach Türken und Polen die drittgrößte Ausländergruppe im Land dar. Anders als früher werden sie von den Deutschen »kaum mehr als Problemgruppe angesehen« [3].

Dieses erste, bilaterale Anwerbeabkommen wurde zum Vorbild für weitere Verträge mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968).


Quellenangaben

[1] Archiv des deutschen Caritas Verbandes e.V., Signatur 380.211.059 Fasz. 01
[2] FAZ 24.12.1970
[3] Vgl. Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. S. 229:

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