Flucht aus Äthiopien

Äthiopien »das Dach Afrikas«

Äthiopien gehört zu den ältesten Staaten der Welt und gilt als Herkunftsland eines der ersten, menschlichen Vorfahren. 1974 stoßen amerikanische Wissenschaftler im Afar-Dreieck auf das mehr als drei Millionen Jahre alte, weibliche Skelett eines Australopithecus afarensis, das sie „Lucy“ nach dem Beatles Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ benennen.

Ein Beispiel antiker Baukultur: Die Festungsstadt Fasil Ghebbi war im 16. und 17. Jahrhundert Residenz des äthiopischen Kaisers Fasilidas und gehört zu den insgesamt acht UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten Äthiopiens.

Die Kulturgeschichte des heutigen Äthiopiens findet 980 v. Chr. als Königreich Abessinien ihren Anfang. Zahlreiche archäologische Funde weisen auf die reiche, antike Kultur des „Landes der gemischten Rassen“ hin, von der etwa die christlichen Felsenkirchen in Lalibela aus dem 12. bis 13. noch heute Zeugnis ablegen. Bis zur Übernahme durch einen Militärputsch 1974 und Umbenennung in die Demokratische Volksrepublik Äthiopien steht die hunderte Jahre alte Monarchie unter der Regierung des jeweiligen Negus Negest, dem „König der Könige“, der sich als Angehöriger und Nachfahre der Salomonischen Dynastie sah.

Der bevölkerungsreichste Binnenstaat der Erde liegt am Horn von Afrika im Nordosten des Kontinents, grenzt im Osten und Südosten an Somalia, im Süden an Kenia, im Westen an den Sudan und im Norden an Eritrea und Djibouti. Als zehntgrößter Staat Afrikas ist das „Land der gebrannten Gesichter“, so die griechische Übersetzung, flächenmäßig rund dreimal so groß wie Deutschland und neben Lesotho das höchstgelegene Land des Kontinents. Äthiopiens Hauptstad Adis Abeba grenzt an den Großen Afrikanischen Grabenbruch und ist das geschäftliche und kulturelle Zentrum des Landes.

Seit der Abspaltung Eritreas 1993 besitzt Äthiopien keinen Zugang mehr zum Meer. In jüngster Zeit gibt es erneut eine Annäherung zwischen beiden Staaten. (1)

Rund 108 Millionen Menschen (2) von 120 unterschiedlichen ethnischen Gruppen leben auf dem „Dach Afrikas“, wie Äthiopien auch genannt wird. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 18 Jahren (3). Entsprechend komplex ist das Sprachen-Babylon, das mehr als 80 verschiedene Sprachen und Dialekte je nach Region und Stammeszugehörigkeit verzeichnet. Amtssprachen sind Amharisch und Englisch. Ebenso vielfältig ist die religiöse Zugehörigkeit: Muslime, äthiopisch-orthodoxe, evangelische und katholische Christen, Juden und Anhänger traditioneller Religionen. Die Regierung verweist vordergründig auf den in der Verfassung festgeschriebenen säkularen Charakter des Staates. Tatsächlich stellt die Frage der Religionszugehörigkeit jedoch für die dominierenden tigrinischen und amharischen Eliten ein ernsthaftes Politikum dar. Sie betonen die Tradition und Bedeutung Äthiopiens als Wiege des Christentums, weil sie angesichts des Einflusszuwachses des Islam ihre kulturelle Dominanz und Identität bedroht sehen (4).

Äthiopien, Ursprungsland des Kaffees

Wichtigstes Exportgut, Nationalgetränk des Landes und wesentlicher Bestandteil des Alltags ist der Kaffee. Mit ihrem Zitronen ähnlichen, blumigen Aroma gelten einige äthiopische Sorten unter Kaffeekennern als das Maß aller Dinge. Der Großteil der Kaffeebohnen kommt aus dem Hochland südlich und westlich der Hauptstadt Adis Abeba. Kaffee ist ein Zeichen der Gastfreundschaft, den ausschließlich Frauen zubereiten. Laut einer Legende beruht die Entdeckung des „Wachmachers“ auf dem merkwürdigen Verhalten äthiopischer Bergziegen, die nach dem Genuss der Kaffeebaum-Früchte in Hochstimmung gerieten.

Von der Tradition herausragender Langstreckenläufer

Unbestritten entstammen die besten Langstreckenläufer*innen der Welt Äthiopien. 53 olympische Medaillen erringen die Athleten für ihr Land, voran die Marathonlegende Haile Gebrselassie. 2007 stellt er in Berlin mit 2:04:26 Stunden einen Weltrekord auf, den er selbst im folgenden Jahr um 27 Sekunden unterbietet. Gebrselassie wird 1973 nahe Assela als eines von zehn Kindern eines Bauern geboren. Der nur 1,64 große Ausnahmeathlet stellt insgesamt 26 Weltrekorde auf und ist Idol zahlreicher Nachwuchssportler. Laufen ist in Äthiopien Religion, und Gebrselassie ist der Prophet (5).

Ein junges Hoffnungstalent in Rheinland-Pfalz ist der 19-jährige Fahmi Abdi Husen, der 2016 als unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling nach Deutschland kommt. Durch Zufall entdeckt der junge Äthiopier sein Lauftalent, belegt bereits nach kurzer Trainingszeit den dritten Platz im Mainzer Gutenberg-Marathon und ist einer von sieben jungen Geflüchteten, die erstmals an dem jährlich stattfindenden Wettkampf teilnehmen.

Auf sein Talent wird der Turn- und Sportverein Schott Mainz e. V., aufmerksam, der Husen seitdem trainiert. Seine Erfolge sprechen für sich.

Äthiopien: Land der Kriege, Hungersnöte und Fluchten

Äthiopien ist neben Liberia das einzige, afrikanische Land, das nahezu nie kolonialisiert wurde, obwohl Großbritannien und Italien Ende des 19. Jahrhunderts im Vormarsch sind. Zwar hatten die Italiener zuvor Abessiniens Bruderstaat Eritrea besetzt, werden aber 1896 bei der berühmten Schlacht von Adwa nach langen blutigen Kämpfen besiegt. Der Sieg gegen die weit überlegenen italienischen Truppen prägt das bis heute starke Nationalbewusstsein der Äthiopier.

Erneut richtet Italien am 2. Oktober 1935 die Waffen gegen Äthiopien. Diesmal unter der Führung des faschistischen Diktators Benito Mussolini, der aus den italienischen Kolonien Eritrea und Somalia weit über 300.000 Soldaten und 87.000 einheimische Askari akquiriert. Der so genannte Abessinienkrieg avanciert zum größten völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg einer europäischen Streitmacht in Afrika. In groß angelegten, verheerenden Luftangriffen kommen Senf- und Giftgas zum Einsatz, dem von 1935 bis Kriegsende 1941 zwischen 350.000 und 760.000 Menschen zum Opfer fallen. Darunter zahlreiche Zivilisten.

Der „Duce“ in typischer Rednergeste. Mit der Besetzung Libyens 1934 und dem Angriff auf Abessinien träumt der Diktator von einem neuen Imperium, das bis an den Indischen Ozean grenzen sollte.
Am Bahnhof von Adis Abeba stapeln Helfer medizinische Vorräte für die Front, darunter Ballen aus Baumwolle, Wolle und warme Decken.

Mit dem Giftgaseinsatz verstößt Italien gegen das Genfer Protokoll von 1925, an das es gebunden war. Der völkerrechtliche Vertrag spricht sich für das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg aus. Der Giftgaseinsatz hat barbarische Folgen: die Menschen reagieren mit Hautverätzungen, unerträglichen Schmerzen und leiden vielfach unter Langzeitfolgen. Ein Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz notiert in sein Tagebuch: "Überall, unter allen Bäumen liegen Menschen. Zu Tausenden liegen sie da. Ich trete näher. Erschüttert. An ihren Füßen, an ihren abgezehrten Gliedern sehe ich grauenhafte, blutende Brandwunden. Das Leben entflieht schon aus ihren von Senfgas verseuchten Leibern." (6)

Mussolinis Angriffen fallen jedoch nicht nur Menschen zum Opfer. Die italienischen Verbände bombardieren und zerstören gezielt Lazarette des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes. Auch landwirtschaftliche Anbauflächen werden mit Senfgas attackiert und ganze Dörfer vernichtet.
 
Trotz der martialischen Kriegsführung gelingt es Mussolini nicht, die konstitutionelle Monarchie zu besiegen. Nach der Niederlage der italienischen Truppen erobert Haile Selassie, der letzte Kaiser von Abessinien, mit Hilfe britischer und anderer Commonwealth-Truppen sowie Franzosen und Belgiern sein Land zurück.

Haile Selassie, der »Wolkenkuckuckskaiser«

Am 23. Juli 1892 wird Haile Selassie, der letzte Kaiser Abessiniens, als Täfäri Mäkonnen in der äthiopischen Provinz Hararghe geboren. Der Sohn des dortigen Gouverneurs lässt sich 1930 zu Kaiser Haile Selassi I. krönen.

Dem spektakulären Ereignis wohnen Diplomaten aus der ganzen Welt bei. Selassi liebt den Prunk und die großen Gesten. „Lebendig vor Augen habe ich auch noch die Ausfahrten mit dem Kaiser durch Addis Abeba. Jeden Nachmittag setzte sich Haile Selassie in eines seiner Automobile, um in seinem Reich nach dem Rechten zu sehen. Und manchmal durften wir Kinder ihn bei diesen Spontanbesuchen begleiten. Oft benutzte der Kaiser den Chrysler, den er von Präsident Roosevelt geschenkt bekommen hatte, eine Stretch-Limousine mit drei Sitzreihen, die mich unglaublich beeindruckte. Dem Kaiser bereitete es Freude, wie einst den Konsuln im alten Rom, bei seinen Fahrten durch die Stadt Almosen an die Bettler zu verteilen“, so die Ausführungen seines Großneffen Asfa–Wossen Asserate in seiner Biographie Haile Selassies, Der letzte Kaiser von Afrika. (7)

Asfa–Wossen Asserate kommt 1968 aufgrund seines Studiums nach Deutschland, die Rückkehr nach Äthiopien ist ihm nach Beginn der kommunistischen Revolution nicht mehr möglich. Seit 1981 ist Asserate deutscher Staatsbürger.

Täfäri Makonnen mit seinem Vater Ras Makonnen Woldemikael, um 1900
Bis zu seiner Ermordung gilt Selassie weltweit als moderner Märchenkaiser. Er war der erste Staatsgast der Bundesrepublik. Noch heute verehren ihn die Rastafaris als in der Bibel angekündigte Wiederkehr Jesu Christi.

Haile Selassi, der sich als Nachkomme des alttestamentlichen König Salomo und der Königin von Saba deklariert, hatte durch seine großspurige Herrschaftsausübung auf Kosten des Volkes jegliche Sympathien verspielt. Dürre, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Provinz und die Gleichgültigkeit des äthiopischen Staates unter seiner Herrschaft führen 1972–1973 zu einer der größten Hungerkatastrophen, der zwischen 40.000 und 80.000 Menschen zum Opfer fallen. Zeitgleich exportiert die Regierung 200.000 Tonnen Getreide. Die Wut des Volkes kennt keine Grenzen.

1975 wird der „König der Könige“ von Schergen des Diktators Mengistu mit einem Kissen erstickt. Den Leichnam lässt Mengistu unter einer Toilette einmauern. Erst 1992 werden seine Überreste gefunden. (8)

Äthiopien im Zeitalter des Konflikts

Zahlreiche unterernährte Frauen, Männer und Kinder fliehen 1984 in Städte wie Mek’ele und Korem, wo sich sogenannte Hungerlager bilden.

Seit 1991 steht das Land unter der Regierung der Parteienkoalition „Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker“. Während die Regierungspartei das Wirtschaftswachstum vorantreibt, sind laut Regierungsangaben vom August 2017 etwa 8,5 Mio. der insgesamt 108 Mio. Äthiopier auf Nahrungsmittelhilfen und medizinische Unterstützung angewiesen. Der fortschreitende Klimawandel mit anhaltenden Dürren ruft verstärkt bedrohliche Hungersnöte hervor. Im Human Development Index rangiert Äthiopien auf Rang 174 von insgesamt 188 gelisteten Ländern (9).


Ursachen und Hintergründe des Äthiopien Konflikts

In Äthiopien leben etwa 80 ethnische Gruppen; eine übergreifende nationale Identität besteht nur in Ansätzen. Die Dominanz der TPLF innerhalb der Regierung privilegiert die vergleichsweise kleine Gruppe der Tigriner (6,2% der Gesamtbevölkerung) gegenüber den beiden größten Gruppierungen, den Oromos (32,1%) und Amharen (30,1%). Diese fühlen sich insbesondere wirtschaftlich diskriminiert. Aber auch zwischen Amharen und Oromos bestehen Rivalitäten mit teils langer Tradition, die allerdings in jüngerer Zeit durch die gemeinsame Kritik und Aktionen gegen die Zentralregierung überdeckt werden. Die äthiopischen Somali fühlen sich mit der Bevölkerung Somalias eng verbunden. Die nomadischen Afar leben auch in Djibouti und Eritrea, das nach ehemaliger Kooperation seit 1991 als Hauptfeind Äthiopiens gilt.

Konfliktverschärfend wirkt sich der fortschreitende Klimawandel aus: Hungersnöte haben in vielen Regionen des Landes aufgrund anhaltender Dürren zuletzt zugenommen, auch die Kaffeeproduktion – heute Äthiopiens zweitwichtigste Devisenquelle nach den von Ethiopian Airlines erwirtschafteten Einnahmen – leidet unter den Klimaveränderungen. Dazu kommt die rigorose Bodenpolitik der Regierung, die riesige Landflächen an internationale Investoren verkauft, während die lokalen Bauern nun als landlose Arbeiter zu Hungerlöhnen bei den internationalen Agrarbetrieben – darunter einige aus Europa – anheuern müssen. Die Landflucht als Folge der systematischen Vertreibung von Bauern von ihrem angestammten Land ("Landgrabbing") verschärft sich noch durch neu errichtete Großdämme entlang der Flüsse, insbesondere des Blauen Nils. Insgesamt gelten mindestens 130.000 Äthiopier als intern Vertriebene. Die "Entwicklungsdiktatur" ist die wirtschaftliche Hauptursache für die innerstaatlichen Probleme Äthiopiens. Die Forcierung des ökonomischen Wachstums wird zu wenig durch sozialpolitische Maßnahmen flankiert.


Jan Claudius Völkel, BpB 2018 by-nc-nd/3.0


Flucht, um zu überleben

Ursachen für die anhaltende Fluchtwelle sind neben Dürre, Hungersnöten und regierungskritischen Protesten die Kämpfe zwischen den Volksgruppen der Oromo und Somali, die bereits 2015 Millionen von Menschen zur Binnenmigration zwingt.

2017 suchen mehr als 25.000 Äthiopier weltweit Schutz. Die häufigsten Aufnahmeländer davon sind Ägypten, Kenia und Südafrika. Nach Deutschland fliehen insgesamt 1.622 Menschen (10). Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Volksgruppen im Süden des Landes lassen Äthiopien weiterhin nicht zur Ruhe kommen. Im April 2018 zwingen die Unruhen, die etwa 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Adis Abeba ausgebrochen sind, laut Schätzungen 1,2 Millionen Menschen (11) dazu, ihre Heimat zu verlassen.

»Ich habe die Erfahrung gemacht: man trägt die Heimat in sich.«

Dibaba wächst in der äthiopischen Region Oromia auf und kommt das erste Mal 1973 mit seiner Familie nach Deutschland, nachdem sein Vater dort einen Studienplatz für Erziehungswissenschaften an der Universität Osnabrück erhalten hatte. Die Familie kehrt 1976 nach Äthiopien zurück und flieht drei Jahre später aufgrund des Bürgerkriegs.

Der Schauspieler, TV-Moderator und Entertainer Yared Dibaba flieht 1979 als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Deutschland. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Heimat in sich trägt. Wenn man in sich zu Hause ist und seine Wurzeln mitnimmt. Und ich kann sagen: Wenn ich Kaffee rieche, fühle ich mich wohl.“

Sprache ist für ihn ein wichtiger Integrationsfaktor. „Sprache ist total wichtig. Vor allem in Deutschland. Wenn man in den USA mit einem Akzent spricht, finden die Menschen das meistens interessant. Die Qualität, wie jemand Englisch spricht, ist nicht so wichtig. In Deutschland hingegen spielt es eine große Rolle, dass man gutes Deutsch spricht, das man sich gut ausdrückt. Nicht zuletzt daran wird gemessen, wie weit man integriert ist. Sprache ist in jedem Land, in das man kommt, ein Schlüssel zur Gesellschaft.“ (12)


(1) https://www.zdf.de/nachrichten/heute/aethiopien-und-eritrea-freundschaftsvertrag-unterzeichnet-100.html
(2) Countrymeters, Stand November 2018
(3) Knoema, Stand 2015
(4) Jan Claudius Völkel, BpB, by-nc-nd/3.0
(5) Philipp Hedemann: „Der Mann, der den Tod auslacht“ DuMont Reiseabenteuer, 2013
(6) https://www.deutschlandfunkkultur.de/krieg-um-abessinien-aethiopiens-kaiser-haile-selassie.932.de.print?dram:article_id=353009
(7) Prinz Asfa-Wossen Asserate: Der letzte Kaiser von Afrika: Triumph und Tragödie des Haile Selassie, Ullstein, Berlin 2014
(8) http://www.spiegel.de/einestages/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html
(9) UNDP 2016
(10) https://www.laenderdaten.info/Afrika/Aethiopien/fluechtlinge.php
(11) n-tv.de, lwa/reuters
(12) http://www.planet-interview.de/interviews/yared-dibaba/35040/

PfeilNach oben