Die Anwerbung türkischer Arbeitskräfte

Es war der 24. September 1961, als ein Zug mit 68 türkischen Frauen und Männern Istanbul in Richtung Deutschland verließ. Es waren die ersten von insgesamt rund 640.000 Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, die auf offiziellem Wege in den folgenden Jahren ihr Glück in Deutschland suchten [1].

Blick auf Bosporus mit Bäumen und Hängebrücke
Postkartenmotiv von Istanbul in den 1960er Jahren.

Sie gehörten zu den Privilegierten, denn nicht jeder türkische Arbeiter, der nach Deutschland wollte, durfte die Reise antreten. Zuvor mußte man einen strengen Auswahlprozess bestehen: Jeder Mann und jede Frau wurde auf seine, bzw. ihre fachliche und gesundheitliche Eignung geprüft. Hierzu hatte man die so genannte »Deutsche Verbindungsstelle« im Istanbuler Stadtteil Tophane am europäischen Ufer des Bosporus eingerichtet. Zusammen mit der Außenstelle in Ankara bildete sie die zentrale Durchgangsstation für die diejenigen, die sich im Rahmen des Anwerbeabkommens auf eine Arbeitsstelle in Deutschland bewarben. Insgesamt durchliefen 70 Prozent aller nach Deutschland ausgereisten, türkischen Migranten diesen Ort [2].

Die Räumlichkeiten in der »Lüleciler Cad. 24« waren den Menschenmassen nicht gewachsen, die sich bereits am frühen Morgen vor den Türen versammelten. Manch einer hatte sogar auf dem Bürgersteig vor dem Eingang übernachtet, um möglichst der Erste zu sein [3]. Aufgrund des großen Andrangs fand die Abwicklung der Amtsgeschäfte sogar in Gängen, im Keller und im Innenhof des Gebäudes statt. Mit Megafonen gaben Dolmetscher Informationen durch und erteilten den überforderten Ausreisewilligen Anweisungen. Für alle Beteiligten stellten die Verhältnisse ungekannte Herausforderungen dar [4]. Jene Zustände spiegelten die große Auswanderungsbereitschaft der damaligen Zeit wider: innerhalb der zwölfjährigen, türkischen Anwerbephase von 1961 bis 1973 bewarben sich 2,6 Millionen Menschen um einen Arbeitsplatz in Deutschland, wovon nur jeder Vierte genommen wurde [5].

Entsprechend der immensen Bewerberzahlen war das Auswahlverfahren besonders streng. An manchen Tagen kamen auf 10 angeworbene Arbeitskräfte 100 Anwärter, die man zurückwies.

Detail aus einem türkischen Pass mit Mondstern und Stempeln
Nur besonders geeignete und gesunde Kandidaten durchliefen das Procedere mit Erfolg und traten ihre Reise nach Deutschland an.

Viele türkische Bewerber empfanden die »Menschensortierung« [7] und die Gesundheitsuntersuchung als ungerecht, entwürdigend und diskriminierend. Türkinnen und Türken, die meist noch nie von einem Arzt untersucht worden waren, mussten sich vor fremden Menschen nackt ausziehen und lange Untersuchungen ertragen [8].

Zehra Kayain – Dreitägiges Anwerbeverfahren und danach nach Deutschland:

»Drei Tage hat bei mir das Anwerbeverfahren in Istanbul gedauert, üblich waren zwei. An einem Tag hat man mir Blut abgenommen, am anderen Tag die Zähne kontrolliert und am nächsten Übungen machen lassen. Ich habe mit dem anwesenden Arzt auf Englisch gescherzt, dass wir wie das Opferschaf für das Fest Bayram genau untersucht würden, bevor man es schließlich kauft. Wir waren insgesamt acht Frauen, die nach Bremen in eine Schokoladenfabrik gehen sollten. Nach der Blutuntersuchung hat er mich als Einzige zur Seite genommen. Ich könne nicht fahren, meinte er, mein Körper sei zu schwach für die Akkordarbeit und ich hätte zu wenige rote Blutkörperchen. Aber ich wollte weg. Für uns Frauen war es damals ein Ausbruch aus der Türkei. Ich wollte in Deutschland arbeiten und dann studieren. Also habe ich ihm gesagt, dass es für mich eine Schande wäre, wenn ich zurück müsste. Schließlich hat er mir die nötigen Papiere ausgestellt und am vierten Tag stand schon der Zug nach Deutschland für uns bereit. Die waren bestens organisiert.« [9]

Trotz der rigorosen Maßnahmen riss der Bewerberstrom nicht ab. Diese Tatsache, verbunden mit dem konstant wachsenden Bedarf Deutschlands an zusätzlichen Arbeitskräften führte dazu, dass ab Januar 1972 die Türken den nahezu größten Anteil unter den ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik stellten [10]. Zu dieser Situation hatte auch der hohe Facharbeiteranteil unter den Türken beigetragen. Fast 31 Prozent aller aus Anatolien angeworbenen Arbeitsmigranten hatten eine berufliche Qualifikation vorzuweisen. Das war mehr als bei jedem anderen Anwerbeland. Die deutsche Wirtschaft hatte so Zugriff auf ausgebildetes Personal, das in den anderen Ländern nur schwer zu finden war [11].

Die Beweggründe, warum Türkinnen und Türken nach Deutschland gingen, waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von politischen und wirtschaftlichen Gründen bis zur Hoffnung, »etwas aus seinem Leben zu machen« [12]. Die verschiedenen Intentionen – von politischen Gründen abgesehen – spiegeln sich in einer Umfrage des türkischen Arbeitsministeriums von 1964 unter rund 500 türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland wider.

Fünzehnköpfige Familie (mehrere Generationen) "posiert" vor einem Bus
Die Türkei in den 1960er Jahren.
Schlicht gehaltener Titel des Berichts, weisse Lettern auf Grün
»Bati Almanya’Daki«, Bericht des türkischen Arbeitsministeriums zur Situation der türkischen Arbeiter in Deutschland.
Was wollten die Gastarbeiter durch die Einreise in die BRD erreichen?Anzahlin %
Geld ansparen9920,0
Die eigene Zukunft und die der Familie sichern9218,6
Beruf erlernen/Weiterbildung8617,4
Ein Auto kaufen7314,8
Studieren469,3
Hauseigentümer werden336,7
Industriemaschinen kaufen224,5
Die Welt sehen und Sprachen lernen153,0
Schulden abzahlen30,3
Keine Angabe255,1
Insgesamt494100

Migrationsziele türkischer Arbeiter in Deutschland [13]


Mit dem Anwerbeabkommen erlebte die Türkei die erste große Ausreisewelle in ihrer Geschichte. Vielleicht wurden gerade deswegen so viele Türken vom »Deutschlandfieber« erfasst [14]. Zu verlockend waren die Geschichten vom Abenteuer, ins Ausland zu gehen und zu groß war der Traum, mit Taschen voller Geld nach Hause zurückzukehren.

»Am Anfang hatte nur einer den Mut, sich anwerben zu lassen. Das war ungefähr 1962. Nach ungefähr neun Monaten war er wieder da. Mit Anzug und Krawatte ist er unsere staubigen Straßen entlang gelaufen und hat angefangen, Geld auszugeben. Das wollten wir auch. Wir wollten auch den feinen Mann spielen. Deshalb haben wir uns gemeldet. Nicht weil wir nachgedacht hatten. Er hat uns mit seinem Anzug mitgerissen.« [15]

Mehrköpfige Familie vor Rohbau
Häuserbau in der Türkei: Das in Deutschland verdiente Geld gab man für die Verwirklichung der eigenen Träume aus.

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  1. Hunn, Nächstes Jahr, S. 53.
  2. Ebd. S. 79.
  3. Gespräch mit Alpay G., 3.2.2010.
  4. Gespräch mit Manfred Issler, 7.4.2010.
  5. Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei (DOMIT) (Hg.), Materialsammlung zur Geschichte der Arbeitsmigration aus der Türkei. Anwerbung, Reise nach Deutschland, Fremdheiten. Köln 2000, S. 8.
  6. Karl-Heinz Meier-Braun, Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt 2002, S. 41.
  7. Gespräch mit Alpay G., 3.2.2010.
  8. Gespräche mit Mehmet Kayain, 13.6.2009, Alpay G., 3.2.2010 und Achmed Ö, 3.9.2011.
  9. Gespräch mit Zehra Kayain, 17.6.2009.
  10. Bundesanstalt für Arbeit (Hg.), Ausländische Arbeitnehmer, Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung, Erfahrungsbericht 1972/73. Nürnberg 1974. S.9.  
  11. Hunn, Nächstes Jahr, S. 72.
  12. Gespräch mit Achmed Ö, 3.9.2011.
  13. Türkisches Arbeitsministerium (Hg.), Bati Almanya’Daki, Bericht des türkischen Arbeitsministeriums zur Situation der türkischen Arbeiter in Deutschland. Istanbul 1964, Anhang.
  14. Hunn, Nächstes Jahr, S. 74 und 77.
  15. Gespräch mit Achmet Ö, 3.9.2011.