Flucht aus Eritrea

Tausende von Frauen, Männern und Kindern fliehen monatlich vor den katastrophalen Zuständen aus Eritrea. Folter, Misshandlungen, willkürliche Inhaftierung, Militärdienst, der bis zum 65. Lebensjahr dauern kann und das Verlassen des Landes unter Strafe verbietet, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Regime des Diktators Isayas Afewerki macht Eritrea zu einem der Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen weltweit. Deutschland ist das drittgrößte Aufnahmeland. 92 Prozent (1) der anerkannten Flüchtlinge stammen aus dem „Nordkorea Afrikas“.

Um die Fluchtwellen aus Eritrea zu verstehen, das vom faschistischen Kolonialismus Italiens geprägt ist, bedarf es eines Blicks in seine Kultur und Geschichte.

Europäische Baukunst am Horn von Afrika

Eritrea liegt im Nordosten Afrikas an der Küste zum Roten Meer, grenzt im Nordwesten an den Sudan, im Süden an Äthiopien und im Südosten an Dschibuti. Amtssprachen sind Tigrinya, Arabisch und Englisch.

Eritrea ist ein sehr junger, eigenständiger Staat, der bis zu seiner Unabhängigkeit 1993 zu Äthiopien gehörte. Das landschaftlich und topografisch atemberaubende Land ist mit seinen rund 117.000 Quadratkilometern knapp ein Drittel so groß wie Deutschland. Eritrea zählt zu den ärmsten Ländern der Welt und liegt in der Rangliste des Human Development Index (HDI) auf Platz 179 von 188 Staaten (Stand 2017). Hier leben knapp sechs Millionen Menschen, deren Glaubenszugehörigkeit fast zu gleichen Teilen muslimisch (Sunniten) und christlich (Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche, Protestanten und Katholiken) ist.

Eritreas Hauptstadt Asmara ist ein wahrer Schmelzpunkt moderner Baukunst und gilt als die schönste Stadt Afrikas. Hier vereinen sich Art déco, Neo-Klassizismus und Novecento, die faschistisch geprägte Moderne aus der Zeit der italienischen Kolonialherrschaft unter Mussolini, zu einem einzigartigen Beispiel für modernistische Stadtplanung im afrikanischen Kontext. Europäische Architekten setzten ihre visionären Ideen um, die ihnen in den Metropolen Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versagt blieb. Mit nachhaltigem Erfolg: 2017 wird mit Asmara erstmalig eine Stätte in Eritrea in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen.

Enda Mariam ist die eritreisch-orthodoxe Kathedrale von Asmara. Sie wurde zwischen 1917 und 1920 nach Plänen des italienischen Ingenieurs Odoardo Cavagnari im Stil der Klassischen Moderne errichtet.
Die Betonflügel der Tankstelle „Fiat Tagliero“ bringen es auf eine Spannweite von 30 Metern. Der im Stil des Futurismus errichtete Bau des italienischen Architekten Giuseppe Pettazzivon von 1938 ist Bestandteil des UNESCO-Welterbes.

Die Zeit italienischer Kolonialherrschaft

1869 erwirbt der italienische Entdecker Giuseppe Sapeto im Auftrag der Reederei Rubattino einen Küstenstreifen in der Bucht von Assab.

Bis zum Mittelalter ist Eritrea Teil des Kaiserreichs Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Im 16. Jahrhundert nehmen die Osmanen den schmalen Küstenstreifen Eritrea in ihren Besitz, bevor Äthiopier, Türken und Ägypter das Land in den folgenden Jahrhunderten umkämpfen.

Im 19. Jahrhundert ist es Italien, das sein Augenmerk auf das Land richtet.

Im so genannten „Wettlauf um Afrika“, der die Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg bezeichnet, versuchen sich die großen europäischen Staaten, vor allem Frankreich und England, aber auch Italien, Portugal und Deutschland Anteile am Kontinent zu sichern. Abessinien kann sich erfolgreich gegen die Besetzung europäischer Staaten wehren, Eritrea jedoch bleibt unter italienischer Herrschaft. Am 1. Januar 1890 wird die italienische Kolonie ausgerufen, die bis 1936 Ausbeutung, Enteignung und Einschränkung der Rechte der eritreischen Bevölkerung zur Folge hat. Für den ersten, italienisch-äthiopischen Krieg 1895/96 nutzt die italienische Kolonialmacht Eritrea als Ausgangspunkt für ihre militärischen Bestrebungen zur Eroberung Abessiniens. Erfolgreich werden die Angreifer besiegt und Abessinien bewahrt seine Unabhängigkeit.

1891 wird Oreste Baratieri (Mitte) zum Gouverneur von Eritrea erklärt
Mit der Niederlage Italiens im Zweiten Weltkrieg endet 1941 die italienische Kolonialmacht.

Erneut versuchen italienische Truppen Abessinien 1934 unter Diktator Benito Mussolini zu erobern. Aus Somalia und Eritrea werden Truppen akquiriert und Eritrea als Aufmarschbasis für einen Krieg genutzt, der ab dem 2. Oktober 1935 als Abessinienkrieg in die Geschichte eingeht, einem der größten völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskriege einer europäischen Streitmacht in Afrika.

Britische Truppen erobern das Land am Roten Meer, sodass Eritrea eine Eigenständigkeit weiterhin verwehrt bleibt.

Gegen das Aufbegehren der Bevölkerung legt Großbritannien das Land 1952 in die Hände der Vereinten Nationen, woraufhin Abessinien ein Föderationsabkommen unterschreibt, dem Eritrea formell beitritt. Der Vertrag sieht eine weitgehende Autonomie für Eritrea vor.


1961: Beginn des eritreischen Unabhängigkeitskriegs

Kaiser Haile Selassie hielt sich jedoch nicht an die Vereinbarung. Eritrea – ein Land, das über Jahrhunderte einen anderen Weg genommen hatte – wurde schrittweise eingegliedert und 1960 zur Provinz herabgestuft. Genau diese Entwicklung ist Ausgangspunkt für die Konflikte zwischen Äthiopien und Eritrea, die bis heute andauern.

Im Jahr 1961 entstand mit der Eritreischen Befreiungsfront eine erste Sezessionsbewegung. Schon bald darauf entbrannte der Unabhängigkeitskrieg. Ab Mitte der 1970er-Jahre, nach dem Sturz von Haile Selassie und einem Militärputsch, brach zudem ein Bürgerkrieg aus, dessen Grenzen zum eritreischen Unabhängigkeitskrieg zunehmend verschwammen.

Referendum unter Aufsicht der Vereinten Nationen

Mitte der 1980er-Jahre litten Millionen Menschen in Äthiopien unter einer Hungersnot. Gleichzeitig verschärfte sich der Bürgerkrieg. Den Kommunisten entglitt die Macht, und als auch noch die Sowjetunion ihre Militärhilfe einstellte, eroberte die Eritreische Volksbefreiungsfront einen Ort nach dem anderen. Am 24. Mai 1991 fiel die Provinzhauptstadt Asmara in die Hände der Rebellen. Damit war der Unabhängigkeitskrieg zu Ende.

Bei einem von den Vereinten Nationen überwachten Referendum am 24. April 1993 stimmten 99,8 Prozent der Eritreer für die Unabhängigkeit. Auf den Tag genau zwei Jahre nach der Einnahme Asmaras durch die Eritreische Volksbefreiungsfront, erklärte Eritrea daraufhin seine Unabhängigkeit.

Die Verfassung von 1997 ist nie in Kraft getreten. Alle wesentlichen Entscheidungen werden vom Präsidenten getroffen. Es gibt keine Gewaltenteilung.


Quelle: BpB, 23.5.2018


»Das Leben hier ist die Hölle, wir haben keine Hoffnung«

Bislang gilt Eritrea als brutale Diktatur und als eines der repressivsten Länder der Welt.

Das Volk ist der Willkür des Präsidenten Isaias Afwerki und einer kleinen Gruppe hoher Parteikader und Militärangehöriger ausgeliefert. Es gibt keine unabhängige Justiz oder ein amtierendes Parlament in diesem totalitären Regime. Das nach der Unabhängigkeit von Äthiopien gewählte Parlament ist nie zusammengetreten. Wer es oder den Präsidenten kritisiert, wird ohne Anklage inhaftiert. 2017 gab es laut UN-Angaben weltweit fast eine halbe Million eritreischer Flüchtlinge.

Laut Amnesty International sitzen tausende politischer Häftlinge ohne rechtsgültigen Prozess im Gefängnis. Sie haben keinen Kontakt zu ihren Familien und keinerlei Rechtsbeistand. Die Haftbedingungen in den Internierungslagern und Militärgefängnissen sind unmenschlich. Folter, sexueller Missbrauch und Gewalt sind an der Tagesordnung. Es wird über grausame Foltermethoden wie Waterboarding, Barfußgehen über scharfe Gegenstände, heißen Wüstenboden oder andere mechanische Gewalteinwirkung berichtet. Häufig kommt es zu Todesfällen. „Eritrea ist ein großes Gefängnis“ beklagen immer wieder Flüchtlinge, die in Lampedusa angekommen sind. Niemand ist vor Verfolgung sicher, so auch das Fazit des UN-Menschenrechtsrats. Die Flucht selbst ist ein gefährliches Abenteuer. Tausende eritreischer Flüchtlinge werden gefoltert, vergewaltigt oder verstümmelt, bevor sie einen der Häfen auf ihrer Flucht nach Europa erreichen. Das was wir in Europa über die gestrandeten Bootsflüchtlinge erfahren, ist nur die Spitze des Eisberges. Auf dem langen Weg zu einem der Häfen sind sie häufig nur knapp dem Tode entronnen. Viele werden von Kidnappern gefangen, die ihnen die Organe entreißen und verkaufen oder die Familien ihrer Opfer erpressen. (2)

Mehr als 49.000 Menschen haben 2017 ihre Heimat aus Angst vor staatlicher Willkür, die sich auch in den nationalen Wehr- und Arbeitsdienst manifestiert, verlassen. Wer eingezogen wird, kann oft mit mehrjähriger Zwangsarbeit etwa in den Bergwerken rechnen. Die Regierung kann den ursprünglich 18 Monate langen Militärdienst auf unbegrenzte Zeit verlängern und in Zwangsarbeit umwandeln. Diese Art Wehr- oder Arbeitsdienst kommt nach einer Beurteilung von Menschenrechtlern einer Versklavung nahe und ist ein Grund dafür, warum Eritreern Asyl gewährt wird. „Das Leben hier ist die Hölle, wir haben keine Hoffnung“, so ein 23 jähriger Eritreer, der seit über fünf Jahren im ‚National Service‘ den Dienst absolviert. „Ich kann mir nichts Eigenes aufbauen, ich muss kommen, wenn man mich ruft“. (3)
 

Ein Fluchtweg nach Rheinland-Pfalz

Seit 2014 ist Kaiserslautern Solomon Tsehayes Lebensmittelpunkt. Ein Teil seiner Familie lebte bereits in der Pfalzstadt, u. a. seine Mutter und seine drei Brüder.

Auf ähnliche Erfahrungen blickt der junge Filmemacher Solomon Tsehaye zurück. Er ist einer der tausenden Geflüchteten, die selbst Militär, Gefängnis, Verfolgung und das Leid der Flucht durchlebte. Tsehaye wird in Asmara geboren, besucht das Gymnasium und möchte Kunst studieren. Doch sein Wunsch scheitert. Nicht er entscheidet über die Studienwahl, die Regierung behält sich die Verteilung der Studienplätze vor. Es geht nicht nach Wunsch oder Neigung, sondern nach Willkür. Tsehaye wird Krankenpfleger, arbeitet 10 Jahre im Krankenhaus. Sein aufkeimender Wunsch, Medizin zu studieren wird ebenfalls reglementiert. Schon immer war es seine Leidenschaft, Filme zu machen. Durch Kreativität, Talent und Kontakte zu lokalen Künstlern entwickelt sich das Hobby zur Profession. Zahlreiche Musik Videos, Dokumentar- und Spielfilme werden produziert, u. a. „Tigisti“, was so viel wie Geduld, Ausdauer und Toleranz bedeutet. Er ist für den Schnitt verantwortlich. Sowohl in Eritrea als auch anlässlich des 45. Internationalen Filmfestivals in Houston/USA wird der Film preisgekrönt. Die künstlerische Anerkennung einer westlichen Nation ist in Eritrea nicht gewünscht. Er gerät in den Fokus der Regierung, ein weiterer Grund für seine Fluchtentscheidung.


Nach erfolgreich absolviertem Deutschkurs (C1) und Studium am Internationalen Studien Kolleg an der Hochschule Kaiserslautern hat er die Zugangsberechtigung für das Studium an der Universität erworben. Sprache ist für ihn der Schlüssel zur Teilhabe.


Der Förderpreis des Integrationsbeirats der Stadt Kaiserslautern ermöglicht es ihm, einen Dokumentarfilm über die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und Migranten in Kaiserslautern zu drehen. „Die Produktion eines interkulturellen Dokumentarfilms ist ein sehr sensibles und komplexes Thema, das auf große Kontroversen in der Bevölkerung stieß. Gerade deshalb war es eine Herausforderung, die Lebensgeschichte von Zugewanderten zu dokumentieren. Über persönliche Schicksale und erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft und Arbeitswelt zu berichten sowie für die kulturellen Unterschiede und Hürden in einem neuen Kulturkreis zu sensibilisieren“, sagt Tsehaye. Schon 2016 drehte er in Kaiserslautern einen Dokumentarfilm über die Band Shaian, die Musiker aus Afghanistan, Iran, Syrien, Indonesien, Aserbaidschan, Deutschland und Südkorea, Christen, Muslime, Bahai, Frauen und Männer zusammenbringt. Sie alle verbindet die Leidenschaft zur Musik, die Ihre gemeinsame Sprache ist. Er selbst ist Mitglied der Band, die bereits drei Monate nach ihrer Gründung mit dem rheinland-pfälzischen Ehrenamtspreis für das beste Integrationsprojekt 2016 ausgezeichnet wird.

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Mit seinem Film „Aura“ ist dem Filmemacher ein sensibles Porträt junger Geflüchteter und Migranten in Kaiserslautern gelungen.

Solomon Tsehaye ist in seiner neuen Pfälzer Heimat angekommen. Und was ist sein nächstes Ziel? „Ich möchte sobald als möglich mein Wissen in computergeneriertem Design ausbauen und Virtual Design studieren“ sagt er. Dafür hat er bereits eine Empfehlung der Hochschule Kaiserslautern erhalten.

»Ich wünsche mir mehr Verständnis für die Situation der Eritreer«

Asmara, eine junge Eritreerin, die in Hamburg lebt und sich dort um eritreische Flüchtlinge kümmert, schildert, warum es im Miteinander zwischen Deutschen und eritreischen Flüchtlingen zu Missverständnissen kommt. Ihre Landsleute seien eher schüchterne und zurückhaltende Menschen, die Autoritäten ungern widersprechen, auch wenn ihnen Unrecht widerfahre. Die Sprachbarriere sei ein Riesenproblem. Sie hilft ihren Landsleuten bei Behördengängen, Arztbesuchen und diversen anderen Gesprächen, die sie führen müssen, um sich als Flüchtlinge zu erklären. Asmara würde sich wünschen, dass die Menschen in Deutschland ein tieferes Verständnis für die Situation und Kultur ihres Heimatlandes entwickeln. Afrika ist ein Kontinent mit 54 anerkannten Staaten, aber häufig werde pauschal von den Afrikanern gesprochen.
 

Und zuletzt: Gibt es eine Aussicht auf Frieden?

Nach 25 Jahren erbitterter Feindschaft haben Äthiopien und Eritrea im Juli 2018 ein Friedensabkommen unterzeichnet. Doch was ist damit verbunden? Wird der lebenslange Militärdienst abgeschafft, der einer der maßgeblichen Fluchtgründe ist? Der Handel floriert bereits. Schon hat sich um Asmara ein Großmarkt mit äthiopischen Waren etabliert. Dennoch ist ungewiss, was diese Öffnung der Grenzen für die weitere Entwicklung Eritreas wirklich bedeutet.