Demokratie und Migration – ein Spannungsfeld?
Knapp die Hälfte aller Menschen weltweit lebt heute in einem demokratischen oder annähernd demokratischen Staat.[1] Daneben gibt es eine Reihe von Staaten, die sich zwar Demokratie nennen, es aber nach unserem Werteverständnis nicht sind.[2]
Ob nun ein Staat eine wahre oder eine Scheindemokratie ist, hängt davon ab, ob er sich an die Regeln der Demokratie hält oder nur die Behauptung aufstellt, dass dies der Fall sei. So deklarierte sich etwa die einstige DDR als demokratischer Staat, die Realität jedoch offenbarte die Machenschaften einer Diktatur, die weder freie Meinungsäußerungen noch rechtschaffene Wahlen zuließ…
Die grundlegenden Werte unserer heutigen, multikulturellen Gesellschaft und unserer deutschen Verfassung basieren auf Freiheit, Gleichheit und dem Schutz der Menschenrechte.
Vor diesem Hintergrund formulierte der Parlamentarische Rat im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte zwischen September 1948 und Juni 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das bis heute unsere Verfassung ist und der wirkliche Ausgangspunkt für unsere liberale und weltoffene Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte.
Konrad Adenauer, Präsident des Parlamentarischen Rates (M.), verkündet das Grundgesetz (v.l.: Helene Weber; Hermann Schäfer; Konrad Adenauer, Adolf Schönfelder; Jean Stock), Bonn 23. Mai 1949 (Quelle: BArch, B 145 Bild-D00022155 / Munker, Georg)
Erste Ausgabe des Bundesgesetzblatts I vom 23.05.1949 mit dem Text des Grundgesetzes (Quelle: Wikimedia )
Allerdings fängt diese Grundlage an zu erodieren: mit der zunehmenden gesellschaftlichen Diversifizierung kommt es zu einer Pluralisierung von politischen Meinungen, die sich im Entstehen von neuen Parteien und zunehmenden radikaleren Haltungen festmachen lässt.
Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem „Schwinden der Mehrheitsgesellschaft“, dass sich durch die Formation vieler, unterschiedlichster „Die“ und „Wir“- Gruppen widerspiegelt. Die Vielzahl an Meinungen macht es jedoch ungleich schwieriger, mehrheitsfähige, konsensorientierte Entscheidungsfindungen herbeizuführen. Enttäuschungen nehmen zu, was zu einer Aushöhlung jahrzehntelang funktionierender Konsens- und Diskursmodelle von demokratischen Organen und Prozessen führen kann.[3]
Diese Tendenz lässt sich an vielen Streitthemen, zum Beispiel in den Bereichen Globalisierung, Sozialabbau, Folgen der Finanzkrise oder Klima- bzw. Umweltschutz ablesen. Doch vor allem im Themenfeld Migration werden Demokratien besonders herausgefordert und teilweise infrage gestellt, was sich in Form einer Zunahme von radikalen, rechtspopulistischen, rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Haltungen und Gewalttaten zeigt.
Der Migrationsdiskurs ist dabei meistens negativ gefärbt: Einwanderung gefährde die öffentliche Sicherheit und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Unabhängig von historischen oder empirischen Daten, die hinweisen, dass Migration überwiegend positive Effekte auf unsere Gesellschaft hatte und hat.[4]
Rechtspopulisten vertreten diese Sichtweise. Sie behaupten, eine Bevölkerungsmehrheit sei gegen Einwanderung. Die etablierten Parteien („die da oben“) würden dies nicht wahrnehmen oder sogar ignorieren, da sie den Kontakt mit der Bevölkerung („wir da unten“) verloren hätten.
Diese antidemokratische Haltung hat eine Sprengkraft, die die Werte und Form unseres Staates in Zweifel ziehen. Die gesellschaftliche Vielfalt jedoch infrage zu stellen, produziert nur neue Ängste und Unsicherheiten. Jeder Einzelne ist deshalb aufgefordert, sein eigenes Gesellschaftsverständnis zu hinterfragen. Konkret: Wie geht man mit Pluralität und Konkurrenz von politischen Ansichten in einer Demokratie um? Insbesondere bei einem sehr kontroversen Gegenstand, wie es das Thema Migration darstellt. Einen Königsweg gibt es dabei nicht. Bestenfalls kann man Orientierungshilfe geben, wie es hier anhand dreier Punkte geschehen soll:
Gibt es ein demokratisches Recht auf Einwanderung, bzw. haben Demokratien ein Recht Migration auszuschließen?
Über das Recht zur Aufnahme bzw. Ausschluss wird auf allen Ebenen kontrovers diskutiert. Vereinfacht dargestellt gibt es zwei Grundpositionen. Erstere betont, dass Migration ein Menschenrecht sei. Die Erde gehöre allen, deswegen müsse es auch eine globale Bewegungsfreiheit geben. Die zweite Position erklärt: Migration auszuschließen schützt nicht nur Eigentum, sondern auch individuelle Freiheitsrechte und den Sozialstaat.[5] Die Frage zu Gunsten der einen oder anderen Position aufzulösen kommt der Umsetzung einer Maximalforderung gleich, was in einer Demokratie unangebracht wäre. Schließlich geht es in einer Demokratie um ein ständiges Austarieren des „Für“ und „Wider“ und um die Suche nach praktikablen Wegen die auf Konsens beruhen – und da stellt die Demokratie das beste Handlungsinstrument dar, in dem diese Wege gefunden werden können.
Eins sollte dabei klar sein: Die Genfer Flüchtlingskonvention muss von dieser Diskussion unberührt bleiben. Menschen die in Not sind, bedürfen unserer ungeteilten Aufmerksamkeit und Hilfe.
Rechtspopulismus als Profiteur der aktuellen Migrationsdebatte?
Migration beherrscht nach wie vor die öffentliche Debatte, seit 2015 eine große Zahl Geflüchteter nach Deutschland gekommen ist. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hat dabei erneut die in Teilen der Gesellschaft verwurzelte Vorstellung, dass Migration Kriminalität und Überfremdung erzeugt, nach oben gespült. Davon profitiert haben rechtspopulistische Parteien. Für sie ist Migration das zentrale Motivationsmittel, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. Alle ideologischen Merkmale ihres rechtspopulistischen Spektrums können daran festgemacht werden: Polarisieren und Moralisieren, „Volk“ gegen „Elite“, Islamfeindlichkeit, Hass auf Medien („Lügenpresse“), Feindbild Europäische Union, Nationalismus und autoritäre Ordnung.[1] Wie oben bereits beschrieben, propagiert Rechtspopulismus ein auf Spaltung der Gesellschaft und gegen Multikulturalismus gerichtetes Weltbild und eine Sprache, die andere gesellschaftliche Gruppen herabwürdigen.
Unsere demokratische Grundordnung, die auf Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit berührt, wird so beschädigt. Forderungen nach mehr direkter Demokratie, etwa in Form von Volksabstimmungen, werden propagiert und bisherige demokratische Entscheidungsfindung als vom Volk entfremdete Politik von Eliten abgewertet. Rechtspopulismus untergräbt so das Vertrauen in unsere staatlichen Institutionen.
Rechtspopulisten zu begegnen ist vor allem durch das Polarisieren und Moralisieren ihrer politischen Vertreterinnen und Vertreter sehr schwer. Mittel und langfristig kann ihnen nur begegnet werden, wenn man die Demokratie stärkt, die Bevölkerung über Vorteile der Migration aufklärt, Vorurteile widerlegt und ein neues, gesellschaftlichen Narrativ prägt, das Migration als Teil unserer Gesellschaft formuliert.
Fazit
Demokratie ist keine in sich abgeschlossene Staatsform. Demokratie ist eine Gestaltungsaufgabe, die ständig überprüft und an die neuen Herausforderungen unserer Zeit angepasst werden muss. Eine dieser Herausforderungen ist das Thema Migration. Migration ist dabei nicht Ursache, sondern nur ein aktuelles Politikfeld neben anderen, in der Demokratie Defizite aufzeigt. Bürger und Zugewanderte fordern hier mehr Partizipation, jenseits von Wahlrecht und Staatsbürgerschaft.
Auch benötigt Demokratie einen stärkeren Diskurs. Ausgrenzende Effekte nationaler Identität, Denk- und Handlungsmuster müssen hinterfragt werden. Hier ist jede und jeder Einzelne gefragt. Menschen die hier leben, arbeiten und sich einbringen, müssen Teil des Ganzen sein, auch wenn sich dieses Ganze aus ganz vielen Identitäten speist. Dafür braucht es die Gestaltung eines neuen, demokratischen Narratives. Und es braucht Menschen, die sich unabhängig ihres Passes oder ihrer Herkunft einbringen und für eine demokratische Zukunft unseres Landes mit streiten. Nur dann haben wir eine funktionierende Demokratie. Nur sie vermag es, religiöse, ethnische oder sprachliche Differenzen in ein politisches Gleichgewicht zu bringen. Politiker, die dieses Gleichgewicht zugunsten einer gesellschaftlichen Gruppe verschieben, bedrohen die Demokratie im Kern.
Wir brauchen nichts anderes als die Entwicklung eines neuen, deutschen „Wir“. Falls es noch eine Abgrenzung zwischen „Die“ und „Wir“ geben soll, dann nur noch zwischen „denen“ die demokratische Werte vertreten und „denen“ die diesen ablehnend gegenüberstehen.
„Nicht das sprechen unterschiedlicher Muttersprachen oder familiäre Herkunftsländer trennen Gruppen zunehmend voneinander, sondern ihr Demokratieverständnis.“ Jagoda Marinić [7]
[1] Demokratieindex der Zeitschrift „The Economist“ von 2018: http://pages.eiu.com/rs/753-RIQ-438/images/Democracy_Index_2018.pdf, S.2. (Abegrufen am 18.10.2019)
[2] Siehe dazu: Ebd. S. 46ff.
[3] Siehe dazu: Norbert Lammert: Zukunft der Demokratie – Demokratie der Zukunft
[4] Oliviero Angeli: Migration und Demokratie. S. 65f.
[5] Siehe dazu ebd. S. 43 – 52 und ders.: Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss https://www.theorieblog.de/wp-content/uploads/downloads/2012/10/2012_Angeli_Recht-auf-Einwanderung-Ausschluss.pdf Abgerufen 21.10.2019
[6] https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/rassismus_deutschland/rechtspopulismus-elemente-100.html
[7] Der Freitag