Gastbeitrag

Portait Professor Dr. Jan Kusber

Professor Dr. Jan Kusber

Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte
Historisches Seminar Johannes Gutenberg-Universität Mainz


Die kurze Geschichte der Ukraine 1991-2022

Die Ukraine ging ihre entscheidenden Schritte zur Selbstständigkeit noch in der untergehenden Sowjetunion. Am 16. Juli 1990 erklärte die Ukraine ihre Souveränität und am 24. August 1991 proklamierte die Regierung in Kyjiw die staatliche Unabhängigkeit, die durch eine Volksbefragung am 24. Dezember 1991 mit 90,3 Prozent der abgegebenen Stimmen bestätigt wurde. Die Ukraine sah sich vor politischen Spannungen, wirtschaftlichen Problemen und hohen Erwartungen der Bevölkerung. Korruption dominierte die Politik des Landes. Mehrfache Spaltungen kamen hinzu. Westlich des Dnipro sprach man fast ausschließlich Ukrainisch, die russischsprachige Bevölkerung lebte mehrheitlich im Süden und östlich des Dnipro. Deshalb waren Nations- und Staatsbildung wichtige Stabilitätselemente. Die 1996 verabschiedete Verfassung erklärte das Ukrainische zur alleinigen Staatssprache. So setzte sich, ohne dass das Russische diskriminiert wurde, allmählich das Ukrainische in den gesellschaftlichen Schichten durch, aus denen es in den 1930er Jahren durch die Russifizierungspolitik Josef Stalins verdrängt worden war. Gleichzeitig wurden die Sprachen und Kulturen der Minderheiten in der Ukraine gesetzlich geschützt. Dennoch drohten durch Separatismus und Regionalismus die Abspaltung der Krim, und in den Gebieten Donezk und Luhansk plädierte im März 1996 überwältigende Mehrheit der Wählerschaft für Russisch als zweite Staatssprache. 

Die Wirtschaftsproduktion des Staates brach bis zum Jahr 2000 ein, die Inflation grassierte. Wie in Russland gewannen zudem skrupellose Unternehmer und Kriminelle, die sogenannten Oligarchen, Einfluss auf die Wirtschaft und die Politik des Landes. Rechtsstaatlichkeit und zivilgesellschaftliche Selbstbestimmung waren eingeschränkt. Dies waren Hürden auf dem Weg in die Europäische Union, den der 1994 gewählte Präsident Leonid Kutschma einschlug. 1995 wurde die Ukraine in den Europarat aufgenommen, 1997 erfolgten Kooperationsvereinbarungen mit der NATO. In der zweiten Amtszeit Leonid Kutschmas erodierte das instabile politische System. Die Präsidialadministration verfolgte ihre Ziele durch Bestechung sowie durch enge Beziehungen zu Oligarchen. Diese wurden im Tausch gegen politische Loyalität bei der Privatisierung bevorzugt. Im Sommer 2003 zählte die Ukraine zu den zehn korruptesten Ländern der Welt. Neben den inneren Bruchlinien belasteten die Beziehungen mit Russland die Politik in Kyjiw, weil der Kreml die Unabhängigkeit der Ukraine nie akzeptieren wollte. Daran konnte auch ein 1997 unterzeichneter Freundschafts- und Kooperationsvertrag nichts ändern. Als ein Dauerproblem erwies sich die Krim, deren überwiegend russische Bevölkerung immerhin einen Autonomiestatus zugebilligt bekam. 1992 erklärte die Halbinsel ihre Unabhängigkeit, woraus zahlreiche Konflikte erwuchsen. Die Schwarzmeerflotte führte zu anhaltenden Kontroversen zwischen Moskau und Kyjiw: Kurz vor der Jahrtausendwende wurde durch eine Teilung der Streitkräfte und der Infrastruktur ein bis 2047 verlängerter Pachtvertrag des russischen Stützpunktes Sewastopol erreicht.

Karte der Ukraine
Karte der Ukraine, mit Oblasten, größten Städten, Flüssen und Nachbarländern, sowie den umstrittenen Gebieten auf dem Territorium der Ukraine, "Republik Krim", "Volksrepublik Lugansk" und "Volksrepublik Donezk"

Ökonomisch blieb die Ukraine weiter von Russland abhängig. Nicht zuletzt wegen der starken Lobby von Atomenergie und Kohlebergbau mangelt es an nötigen Modernisierungen. Schon bald nach Putins Amtsantritt als Präsident Russlands im März 2000 wurde Moskaus Unzufriedenheit über die Perspektiven der EU-Osterweiterung immer deutlicher. Für die russische Außenpolitik erlangten geopolitische Faktoren eine immer größere Bedeutung. Auf eine sehr direkte und parteiische Weise mischte sich Putin im Herbst 2004 in die Präsidentschaftswahlen der Ukraine ein. Neben Kutschmas Favoriten, dem aus Donezk stammenden Wiktor Janukowytsch, der auch Putins Kandidat war, bewarb sich der „Westler“ und demokratischen Reformen verpflichtete ehemalige Premierminister Wiktor Juschtschenko.

Beide Kandidaten lagen im ersten Wahlgang vom 31.Oktober 2004 nahezu gleichauf. Am 21. November 2004 mussten sich beide Kandidaten einer Stichwahl stellen; hier siegte Janukowytsch knapp vor Juschtschenko. Die Folge war die Orangene Revolution: Gegen die auch von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestätigte massive Wahlfälschung erhoben sich in den Wahlkampffarben Juschtschenkos breite Bevölkerungskreise. Der „Unabhängigkeitsplatz“ (Majdan Nesaleschnosti) wurde zur politischen Bühne. 

Menschen auf dem Majdan in Kyjiw
Am 22. November 2004 versammelten sich bis zu 150.000 Menschen in Kyjiw aus Protest gegen Wahlbetrug.

Dank der massiven Proteste wurde die Stichwahl am 26. Dezember 2004 wiederholt, aus der Juschtschenko nun mit 52 Prozent der Stimmen als klarer Sieger hervorging. Die Folge war die politische Spaltung der Ukraine, die Beziehungen Russlands zur Ukraine verschlechterten sich. Das Engagement auf dem Majdan war wesentlich von den Hoffnungen getragen, dass sich die Verhältnisse in der an Transformationsproblemen und Missmanagement leidenden Ukraine ändern würden. Die Revolutionäre versprachen den Anbruch einer neuen Ära, insbesondere die Integration in die EU. Vor allem in den Gebieten westlich des Dnipro stand der Weg nach Europa außer Frage. Gleichzeitig war die Wahrnehmung in den östlichen und südöstlichen Regionen, der Wählerbasis Janukowytschs, eine andere. Der dort mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung mit ihrer nachhaltigeren Prägung durch sowjetische Werte und Verhaltensmuster musste die Orangene Revolution als ein importiertes Projekt erscheinen.

2008 beantragte Präsident Juschtschenko die Mitgliedschaft in der NATO. Trotz des russisch-georgischen Krieges 2008 vertagte die NATO das Beitrittsgesuch jedoch, was in der Ukraine Proteste auslöste. Parallel wurden Vorbereitungen für ein Assoziierungsabkommen mit der EU getroffen. Dieses sollte Ende 2013 unterzeichnet werden. Nach der Wahl Wiktor Janukowytschs, des Verlierers der Orangenen Revolution, zum Präsidenten, verbesserten sich die Beziehungen zu Moskau wieder: Am 21. November 2013 gab Janukowytsch das Assozierungsabkommen auf. Das unerwartete Scheitern der EU-Assoziierung führte zu Massenprotesten und einer Reaktivierung des Euromajdan. 

Massenproteste auf dem Majdan
Das unerwartete Scheitern der EU-Assoziierung führte zu Massenprotesten und einer Reaktivierung des Euromajdan.

Versuche, die Opposition und deren Proteste auszuschalten, veranlassten das ukrainische Parlament, Janukowytsch am 27. Februar 2014 zu stürzen und durch eine Übergangsregierung zu ersetzen. Dies war verfassungswidrig und ein Akt des revolutionären Umbruchs zugleich. Die meisten westlichen Staaten und die USA, die von Anbeginn die Majdan-Bewegung unterstützt hatten, gaben indessen der neuen Regierung sofort ihre diplomatische Anerkennung. Moskau betrachtete Kyjiws EU-Kurs als eine gegen Russland gerichtete Verschwörung des Westens und die Majdan-Revolution als einen von außerhalb des Landes gesteuerten Umsturz. Daher ließ sie kurz nach der Flucht Janukowytschs die Krim annektieren. Inzwischen konnte der als Oligarch reich gewordene Petro Poroschenko im Mai 2014 die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Seine Wahlkampfversprechen waren politische Reformen, die Bekämpfung der Korruption und eine Lösung des Konflikts in der Ostukraine.

Tatsächlich gelangen ihm Verbesserungen im Energiebereich, der Haushaltspolitik, im Polizeiapparat und im staatlichen Wirtschaftssektor. Das im Februar 2015 geschlossene Minsker Abkommen zur Deeskalation des Konflikts in der Ostukraine scheiterte hingegen. Ende 2018 wurde zudem von Moskau im Widerspruch zum Völkerrecht das Asowsche Meer einschließlich der Meerenge von Kertsch zum russländischen Hoheitsgebiet erklärt. In der Präsidentschaftswahl siegte jedoch nicht Poroschenko, sondern ein Kandidat mit großer Mehrheit, der zuvor als „Mann ohne Eigenschaften“ gegolten hatte: Wolodymyr Selenskyj. In freien Wahlen verdrängte er die alte politische Elite von der Macht, weil er den Wunsch der ukrainischen Mehrheitsbevölkerung nach einem Neuanfang verkörperte. Der bedingungslose euro-atlantische Kurs Selenskyjs und seine seit Ende 2021 nahezu täglich erhobene Forderung nach Mitgliedschaft in EU und NATO veranlassten Putin, mit einem Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine zu reagieren. 

Mit der verlogenen Begründung, eine „militärische Spezialaktion“ zur „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ durchzuführen, begann am 24. Februar 2022 ein offener russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine.
 

Weitere Vorträge von Professor Dr. Jan Kusber:

Online-Vortrag: “Putins Krieg gegen die Ukraine. Eine historische Einordnung”
https://www.youtube.com/watch?v=8JC-sWaqSiQ

Jan Kusber: (Kleine) Geschichte der Ukraine | Ringvorlesung Ukraine #4
https://www.youtube.com/watch?v=zpo1Z99cEWk
 

Weiterführende Links:

Geschichte der Ukraine seit 1991 auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB)
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/209819/die-unabhaengige-ukraine 
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/209820/die-majdan-revolution-und-das-bewaffnete-eingreifen-russlands

Veranstaltungsreihe der BpB – Was Sie über die Ukraine wissen sollten – In einer 13-teiligen Videoreihe erklären Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, was man unbedingt wissen sollte, um die heutige Ukraine zu verstehen.
https://www.bpb.de/mediathek/reihen/was-sie-ueber-die-ukraine-wissen-sollten

Geschichte der Ukraine auf den Seiten der LpB BW
https://www.lpb-bw.de/ukraine-geschichte

Analyse: Die Orange Revolution 2004 und der Euromaidan 2013/2014 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/179753/analyse-die-orange-revolution-2004-und-der-euromaidan-2013-2014

Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen
https://www.swp-berlin.org/themen/dossiers/russlands-krieg-gegen-die-ukraine
 

 


Literaturhinweise:

Simon, Gerhard, Neubeginn in Der Ukraine: Vom Schwanken Zur Revolution in Orange, in: Osteuropa 55 (2005), S. 16–33.
Luchterhandt, Otto, Der Anschluss Der Krim an Russland aus völkerrechtlicher Sicht, in: Archiv des Völkerrechts, 52 (2014) 2, S. 137–74.
Kappeler, Andreas, Kleine Geschichte der Ukraine. 9. Aufl. München 2024.
Rink, Martin (Hg. u.a,), Ukraine und Ostmitteleuropa. Paderborn 2023 (= Wegweiser zur Geschichte).

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