Dietmar Muscheid: »Chancen zu wenig beachtet«

Bei der Einbindung von Migranten in die Gesellschaft spielt auch die Integration in die Arbeitswelt eine wichtige Rolle.

Im Jahr 1955 schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Italien den ersten Vertrag zur Anwerbung von Arbeitskräften. Sie wurden hier gebraucht, da sich die deutsche Nachkriegswirtschaft schnell entwickelte.

Die Zeit der »Gastarbeiter« hat unser Land verändert und ist ein wichtiges Kapitel unserer Geschichte und der Gewerkschaften geworden. Dabei spiegelt der Begriff des »Gastarbeiters« die anfängliche Vorstellung dieser Arbeitskräfte gut wider. In Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs waren sie als Gäste für eine bestimmte Dauer erwünscht, obwohl ihnen teilweise katastrophale Arbeits- und Lebensbedingungen zugemutet wurden. Auch 20 Jahre später haben sich in einigen Bereichen diese Bedingungen nicht verbessert, wie es z.B. Günter Wallraff in seinem Buch »Ganz unten« eindrucksvoll beschreibt.

Dem Abkommen mit Italien folgten 1960 Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1964 Portugal und 1968 Jugoslawien. Auch bei diesen Anwerbeabkommen lebte man mit der Vorstellung, dass der Aufenthalt des »Gastarbeiters« nur vorübergehend war.

In Zeiten des konjunkturellen Abschwungs und wachsender Arbeitslosigkeit wurden Forderungen laut, diese Arbeitskräfte wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken. Da die Vorstellung von der befristeten Anwesenheit der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter eine Integrationspolitik überflüssig machte, wurde lange verkannt, dass zwar Arbeitskräfte gerufen wurden, aber Menschen gekommen waren, die hier ihren neuen Lebensmittelpunkt aufbauten. Auch heute gilt noch, dass die Migrantinnen und Migranten wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschland beitragen.

Politik und Gesellschaft beachten die mit der Einwanderung verbundenen Chancen und Herausforderungen immer noch zu wenig. Eine erfolgreiche Integration bedarf rechtlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Es ist notwendig, dass Menschen, die schon lange in Deutschland leben und arbeiten, auch einen gesicherten, und nicht nur immer wieder kurzfristig zu verlängernden, Aufenthaltsstatus erhalten.

Es geht auch um die Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten an politischen Entscheidungen. Man kann nicht einseitig die Integrationswilligkeit von Migrantinnen und Migranten einfordern, ohne nicht auch gleichzeitig eine Integrationsbereitschaft der Gesellschaft zu bieten. Als gewerkschaftliche Organisation möchten wir uns an einem breiten gesellschaftlichen Diskurs beteiligen, beschreiben und aufzeigen, was wir unter Integration verstehen und welche Schritte notwendig sind, um sie zu fördern und zu ermöglichen.

Die gemeinsame Interessenvertretung von »Ausländern« du Einheimischen war bereits 1955 das Ziel der Gewerkschaften. Dabei spielte der Schutz vor Lohndumping in den Diskussionen schon damals eine große Rolle. Die Einbindung der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in das Tarifgefüge war eine wichtige Voraussetzung, um einen Unterbietungswettbewerb zu verhindern. Bei den Gewerkschaften wurden Referate für »Ausländische Arbeitnehmer« eingerichtet, Informationen in alle wichtigen Sprachen der eingewanderten Kolleginnen und Kollegen übersetzt und Anfang der 1970er Jahre damit begonnen Arbeitskreise einzurichten, in denen ausländische Vertrauensleute und Betriebsräte zusammen kamen.

Bereits das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 sah ein aktives und passives Wahlrecht für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor. Gleiches gilt für Verwaltungen, die nach dem Bundespersonalvertretungsgesetz oder den Gesetzen der Länder die Personalräte wählen.

Mit der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 2001 wurde die Integration ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestärkt. Sie gehört heute, wie der Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zu den allgemeinen Aufgaben des Betriebsrates.

Integration in Arbeit und Beruf ist eine wichtige Voraussetzung für die Entfaltung unterschiedlicher Talente und erhöht die gegenseitige Akzeptanz. Sie kann damit eine wichtige Brücke für eine erfolgreiche und volle gesellschaftliche Integration sein. Heute sind Betriebsräte, gewerkschaftliche Vertrauensleute und Funktionäre ohne deutschen Pass in vielen Betrieben und Verwaltungen gelebter Alltag.


Portrait Dietmar Muscheid

Dietmar Muscheid 

ist Vorsitzender des DGB Rheinland-Pfalz.

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