Barbara Görres
Auf dem Mainzer Bahnhof nahm sich Barbara Görres angeworbener Arbeiter an
Da standen sie nun in einem ihnen unbekannten Land, verloren und unsicher, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes auch wie bestellt und nicht abgeholt. Wenn die angeworbenen ausländischen Arbeitnehmer im Mainzer Hauptbahnhof ausstiegen, in der Stadt, in der sie ihr künftiges Arbeitsleben verbringen sollten, hing es nicht zuletzt von dem Organisationsvermögen und der Zuverlässigkeit ihrer Arbeitgeber ab, ob die Begrüßung und der Weitertransport zu ihren Unterkünften reibungslos funktionierte. »Nicht alle Verantwortlichen, die ihre Arbeiter abholen sollten, waren pünktlich«, erinnert sich Barbara Görres, die in den letzten Jahren der Anwerbephase am Hauptbahnhof für einige Jahre so manche zusätzliche Arbeitsstunde verbrachte.
Als Vermittlerin bei der Bundesanstalt für Arbeit gehörte es zu ihrem Aufgabenbereich, die Ankömmlinge am Hauptbahnhof in Empfang zu nehmen, sie in die richtigen Züge zu setzen, falls sie in die Provinz weiterfahren mussten, oder sie eben ihren Arbeitgebern zu überlassen, wenn Mainz selbst das Ziel war. Von April 1969 an erlebte Görres auf diesem Weg die ersten Stunden so genannter »Gastarbeiter« in Deutschland, die bei ihrer Ankunft Arbeitsverträge in der Tasche hatten, die sie noch in der Heimat unterzeichneten. Damals waren es hauptsächlich Türken und Jugoslawen, die von den Betrieben in Mainz und Umgebung gezielt angefordert wurden, engagiert über die Anwerbestellen in Istanbul und Belgrad. Spanier und Portugiesen kamen seltener in die Mainzer Gegend.
Das Abholen am Hauptbahnhof war nicht immer einfach für Görres. Damals gab es noch »Bahnsteigsperren«, die Bahnsteige waren nicht frei zugänglich. Wenn ihr Dienstausweis wieder einmal von dem Bahnbeamten nicht anerkannt wurde, musste Görres eine Bahnsteigkarte lösen. Das waren dann 50 Pfennig »Eintrittsgeld«.
Die Züge kamen in der Regel aus München-Pasing, wo sich die zentrale Verteilstelle für die Angeworbenen befand. Dass die Zusatzaufgabe bei den Mainzer Arbeitsvermittlern nicht sehr beliebt war hing damit zusammen, dass Sonder- und auch Regelzüge aus der bayrischen Landeshauptstadt außerhalb der Dienstzeiten des Arbeitsamtes ankamen, wie etwa am frühen Morgen oder späten Abend. Ihre guten Englischkenntnisse nutzten Görres bei den türkischen und jugoslawischen Arbeitnehmern nichts. Die Verständigung mit den Ankömmlingen war entsprechend schwierig, auch wenn es dann doch immer irgendwie ging. »Einfacher war es, wenn die Arbeitgeber Dolmetscher mitbrachten«, erläutert Görres.
Die Angst vor der sprachlichen und kulturellen Fremde war vielen Neuankömmlingen deutlich anzumerken. Haften geblieben ist bei Görres eine völlig verschüchterte Türkin, die noch nie in ihrem Leben in einem Zug saß, geschweige denn, eine Reise ins Ausland antrat. »Ganz ängstlich drückte sie ihre Sachen an sich und wollte sich nicht helfen lassen«, erinnert sich Barbara Görres.
Weil die Ankömmlinge bereits in ihrer Heimat feste Arbeitsverträge für zunächst ein Jahr abgeschlossen hatten, waren Unklarheiten über das Ziel ihrer Weiterreise nach der Ankunft in Mainz selten. Einmal, so erinnert sich Görres, hatte ein Ingelheimer Unternehmen allerdings seinen Vermittlungsauftrag für ausländische Arbeiternehmerinnen zurückgezogen, doch diese Information wurde offenbar nicht weitergegeben. In solch einem Fall war Spontaneität gefragt. »Die Arbeiterinnen haben wir dann in einer Textilfabrik in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs unterbringen können. Die in Ingelheim für eine andere Tätigkeit vorgesehenen Arbeiter mussten angelernt werden, und es gab auch Probleme, weil die Bezahlung in der Textilfabrik niedriger war, als im Anwerbevertrag vorgesehen«.
Die Kontrolle über die Unterkunft der Angeworbenen, die meist in Gemeinschaftsunterkünften auf dem Firmengelände wohnten, gehörte mit zum Aufgabenbereich der engagierten Helferin. Zwar waren die Lebensbedingungen in diesen einfachen Unterkünften nicht gerade luxuriös, aber ihre Ansprüche so gering, dass dies nicht zum Problem wurde. »Mir ist kein Fall bekannt geworden, dass es einmal Beschwerden über die Unterbringung gegeben hätte«, sagt Görres.
Auch Feindseligkeiten der Deutschen gegenüber den ausländischen Arbeitern waren zu der Zeit der Anwerbung nach Görres’ Erfahrung selten. Die Einheimischen wussten eben sehr wohl, dass auch sie von diesen, nach Gesetz und Tarif entlohnten Kräften profitieren, weil sonst unbeliebte, aber wichtige Arbeiten brach gelegen hätten.
Irgendwie funktionierte das Abholen, Weiterleiten und Übergeben der Ankömmlinge am Bahnhof letztlich immer. Einmal verlief eine Abholaktion allerdings ziemlich chaotisch. Der gerade aus dem Amt geschiedene Bundespräsident Heinrich Lübke hatte sich 1969 zum Abschiedsbesuch bei der rheinland-pfälzischen Landesregierung angemeldet. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurde gegen den politischen Gast demonstriert, just als Görres zum Sonderzug aus München musste. »Sogar berittene Polizei war vor Ort im Einsatz«, schildert Görres. Zu allem Überfluss stellte sich heraus, dass unter den Ankömmlingen unerwartet auch Arbeiter für den Bad Kreuznacher Bereich waren, »das hatte das Kreuznacher Arbeitsamt nicht gewusst«. Mitten im Lübke-Chaos musste sich Görres um die korrekte Verteilung und Weiterleitung der Arbeiter kümmern – verloren ging letztlich niemand, »auch dank der Unterstützung durch die Mitarbeiter der Bahn«, betont sie.
Mit dem Anwerbestopp im Herbst 1973 entfiel dieser Teil der Aufgaben für Barbara Görres. Mit großem Interesse hat sich die Zeitzeugin im Jahr 2005 die Ausstellung des SWR und der rheinland-pfälzischen Ausländerbeauftragten zum Thema »50 Jahre Anwerbung« im Mainzer Hauptbahnhof angeschaut. Eine Geschichte irritierte sie beim Studium des historischen Materials schon: Ist in der Dokumentation doch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, zu sehen, als er der zwei-millionsten, aus Jugoslawien kommenden Gastarbeiterin in München einen Blumenstrauß überreicht. Sie habe als Gastgeschenk auch einen Fernseher bekommen, heißt es. Dabei verbindet Görres mit der Geschichte des zwei-millionsten angeworbenen Arbeitnehmers eine eigene, eine andere Geschichte.
Besagter Neuankömmling Nummer zwei Millionen war nämlich ein Mann und stammte aus der Türkei. Auch er sollte vom Mainzer Hauptbahnhof aus zu seiner Arbeitsstätte gelangen. An jenem Tag, im März 1972, wurde Görres am Hauptbahnhof nicht gebraucht. Andere würden das übernehmen, hieß es. Warum, das erführ sie aus der »Tagesschau«. Zum Bericht über den Stingl-Auftritt in München, der dem türkischen Arbeitnehmer einen Fernseher durch das Abteilfenster reichte sagte der Sprecher im Off, der Jubilar arbeite in einem großen Mainzer Industriebetrieb. Damit war ihr klar, warum sie »verschont« wurde: Für den Zweimillionsten war am Bahnhof wohl ein »Großer Bahnhof« geplant.
Görres war keineswegs traurig, als sie am nächsten Tag hörte, dass Vertreter von Stadt, Presse, Rundfunk und Fernsehen vergeblich warteten. »Der Zweimillionste war nämlich gar nicht in dem Zug. Später hat sich dann herausgestellt, dass er in München von Verwandten mit dem Auto abgeholt worden war«, berichtet Görres. Ein bisschen kam bei ihre Schadenfreude auf, »weil mir das öfter passiert war und man mir das nicht glauben wollte «.
Auch wenn Barbara Görres bereits über 20 Jahre im Ruhestand ist und die Beschäftigung mit den Angeworbenen noch länger zurück liegt, denkt sie manchmal an die Episode. »Wenn ich, besonders in der Mainzer Neustadt, einen alten Türken sehe, überlege ich, ob das der Zweimillionste gewesen sein könnte - oder sonst einer, den ich damals am Bahnhof abgeholt habe.«
Guido Steinacker
Barbara Görres - Eine Berlinerin in Mainz
Seit nahezu 50 Jahren ist Barbara Görres in Rheinhessen zu Hause. Nach dem Abitur 1943, begann ihre Berufslaufbahn am Kriegsende dank stenografischer Fähigkeiten, flotter Finger auf der Schreibmaschine und ihren Englischkenntnissen im Personalbüro der US-Militärverwaltung in Berlin. Im Juni 1953 forderten Umstrukturierungen den Umzug nach Kaiserslautern, »zum Kummer meiner Eltern«, berichtet Görres. Sechs Jahre später stand ein erneuter Wechsel an, diesmal boten ihr die US-Streitkräfte eine Tätigkeit in Frankfurt an. Um nicht von der Pfalz aus pendeln zu müssen, wählte Görres ab 1961 Mainz als neuen Wohnort. 1965 startete sie mit damals 40 Jahren, eine neue Laufbahn beim Mainzer Arbeitsamt, dem sie bis zu ihrer Pensionierung 1985 treu blieb. Die Aufgabe, die ankommenden ausländischen Arbeitnehmer zu betreuen, kam mit ihrem Wechsel in den Bereich der Arbeitsvermittlung ab 1969 hinzu, blieb durch den Anwerbestopp 1973 allerdings eine kurze Episode in ihrem Leben.