Das deutsch-türkische Anwerbeabkommen
Der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in den 1950er-Jahren, übertraf die kühnsten Erwartungen der Menschen. Unbeschreibliche Wachstumsraten von bis zu 12,1% [1] versetzten das Land in einen kollektiven Taumel.
Der Begriff »Wirtschaftswunder« beschreibt bis heute das Erstaunen der Bevölkerung über den unerwarteten Wohlstand so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die ökonomische Entwicklung in Westdeutschland schlug sich schon bald auf dem Arbeitsmarkt nieder. Innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne sank die Arbeitslosenquote von 11% im Jahr 1950 auf unter 1% im Jahr 1961 [2]. Der Zustand der Vollbeschäftigung war damit erreicht. Das Land benötigte dringend zusätzliche Arbeitskräfte. (s. auch »Deutschland im Nachkriegsoptimismus« in der Dauerausstellung).
Gleichzeitig war das wirtschaftliche Leben der Türkei von Ineffizienz und Subventionspolitik geprägt. Die Folgen waren Finanz- und Wirtschaftskrisen sowie der gescheiterte Versuch, das Land zu industrialisieren. Noch 1961 lebte ein Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft. In dieser Situation hoffte die türkische Regierung, der hohen Arbeitslosigkeit und dem starken Bevölkerungswachstums mittels Arbeitskräfteexport begegnen zu können [3].
Der Weg zum Abkommen
Die Unterzeichnung des Abkommens war das Ergebnis von langen Verhandlungen. Vorausgegangen waren private Alleingänge unterschiedlicher Institutionen, um Türken für verschiedene Aus- und Fortbildungsprojekte nach Deutschland zu holen – zum Beispiel die Initiative des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, dessen damaliger Direktor Fritz Baade in der Zeit des Nationalsozialismus in die Türkei emigriert war [4]. Das Institut organisierte 1956 ein Fortbildungsprojekt für türkische Handwerker. Ein zweites Projekt kam im Mai 1957 mithilfe des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zustande. Heuss, der während eines offiziellen Staatsbesuches in der Türkei sehr herzlich empfangen wurde, machte in Ankara das Angebot, 150 türkische Berufsschulabsolventen zur Ausbildung einzuladen [5]. Darüber hinaus bemühten sich immer mehr deutsche Arbeitgeber, neue Mitarbeiter in der Türkei zu finden. Gleichzeitig versuchten türkische Arbeitskräfte aus eigener Initiative auf den deutschen Markt zu gelangen. Auf diese Weise waren bis 1960 bereits 2.500 türkische Arbeitnehmer nach Deutschland gekommen [6].
Die zunehmend privaten Aktivitäten ließen bei den offiziellen Stellen auf beiden Seiten Stimmen aufkommen, die für eine staatliche Regulierung der Zuwanderung türkischer Arbeitnehmer plädierten [7]. Dieses Vorhaben wurde vor allem in Ankara begrüßt. Die Türkei hoffte, durch diese Maßnahme eine Vielzahl von sozialen und wirtschaftlichen Zielen zu erreichen, um so dem Druck, der auf dem innertürkischen Arbeitsmarkt lastete, ein Ventil zu geben [8]. Hauptsächlich sollten die erwarteten, monetären Geldüberweisungen der zu entsendenden Arbeiter das Handelsbilanzdefizit der Türkei kompensieren. Zusätzlich wurde erwartet, dass durch die zurückkehrenden Menschen neue Fachkenntnisse in die Türkei gelangen, um das Land in seiner Modernisierung voranzubringen [9].
Die deutschen Stellen standen dem türkischen Anliegen zuerst skeptisch gegenüber. Die Migrationsforscherin Karin Hunn unterstreicht, dass der ablehnenden Haltung keine kulturellen oder religiösen Vorbehalte zugrunde lagen. Den einreisewilligen, muslimischen Türken wurde nicht aufgrund ihres Hintergrunds ein Anwerbeabkommen verwehrt [10]. Im Gegenteil: Schon 1956 hatte die Bundesanstalt für Arbeit aufgrund der bis dahin gemachten Erfahrungen mit türkischen Arbeitskräften berichtet, dass
»Schwierigkeiten die anfangs insbesondere auf Grund der Religion befürchtet wurden, […] nicht aufgetreten sind. Insbesondere sind keine speziellen Verpflegungsansprüche, wie sie z.B. von den italienischen Arbeitskräften gestellt werden, geltend gemacht worden. Lediglich der Genuss von Schweinefleisch wird abgelehnt.« [11]
Vielmehr sind die Vorbehalte in den bundesdeutschen Ministerien auf eine Interessenlage zurückzuführen, die sich von der der Türkei unterschied. Das Auswärtige Amt befürchtete bei einem Anwerbeabkommen mit der Türkei andere Länder zu verstimmen, die ebenfalls an Abkommen interessiert waren. Das Bundesarbeitsministerium sprach sich dafür aus, nicht schon im Voraus den eigenen »Verhandlungsspielraum« durch offensichtliche Vermittlungsbereitschaft zu verengen. In der Behörde war man zudem nicht davon überzeugt, dass ein weiteres Abkommen wirklich dazu führen würde, an die begehrten Facharbeitskräfte zu gelangen [12].Angesichts des hartnäckigen, türkischen Wunsches nach einer Regelung stimmte die Bundesrepublik letztendlich zu, da die Türkei eine Absage nach eigener Einschätzung »als eine Diskriminierung betrachten müsse.« [13] Ausschlaggebend für diese Haltung war insbesondere die Bedeutung der Türkei als wichtiges NATO-Mitglied und als bedeutsamer Handelspartner Westdeutschlands.
Die deutsch-türkischen Anwerbeverträge von 1961 und 1964
Das 1961 unterzeichnete Anwerbeabkommen hatte nur bis 1964 Bestand. Dann wurden die Vereinbarungen neu geregelt. Im Einzelnen betraf dies die Punkte Aufenthaltserlaubnis und Familiennachzug [14]. Im Vertrag von 1961 war die Aufenthaltserlaubnis für türkische Arbeiter in Deutschland auf zwei Jahre beschränkt. Danach sollten sie zwingend wieder in die Heimat zurückkehren. Im Gegensatz zu anderen Anwerbeabkommen war ein Familiennachzug nach Deutschland nicht möglich. Diese Neuregelungen gaben in der Forschung Anlass für die Auffassung, der Inhalt der deutsch-türkischen Vereinbarungen sei gegenüber der Türkei diskriminierend gewesen.
Neuere Untersuchungen kommen zu einem anderen Schluss: Die Akzentverlagerung zu den bisherigen Einigungen mit Italien, Spanien und Griechenland sei auf die Befürchtungen des Innenministeriums zurückzuführen, dass der wachsenden Anzahl von Ausländern in Deutschland [15] vorsorglich entgegenwirken wollte – immerhin waren bis Ende 1961 mehr als 500.000 Ausländer gemeldet. Eine »Dauerbeschäftigung« oder gar »Einwanderung« sollte verhindert werden. In dieselbe Richtung zielte auch die Forderung, den Familiennachzug zu erschweren [16]. Daher waren diese beiden Regelungen 1964 bei den deutsch-portugiesischen Verhandlungen über ein Anwerbeabkommen ebenfalls Thema [17].
Die türkische Regierung war zunächst mit der zeitlichen Befristung einverstanden. Dadurch sollten die in Deutschland erworbenen Erfahrungen schon bald wieder im Heimatland eingesetzt werden. Das Verbot eines Familiennachzugs sah Ankara dagegen weitaus kritischer.
Beide Punkte wurden schließlich in einer Neufassung der Anwerbevereinbarungen vom 19.05.1964 abgeändert und damit das angedachte Rotationsprinzip außer Kraft gesetzt.
Die Jahresfrist und die Einreisebestimmungen wurden den bisherigen Regelungen mit den anderen Staaten angeglichen. Hauptargument für die Streichung war die Kritik der deutschen Wirtschaft, die sich dagegen aussprach, einmal angelernte Arbeitskräfte nach zwei Jahren wieder gehen zu lassen.
- Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Bruttoinlandsprodukt, Bruttonationaleinkommen, Volkseinkommen, Web-Ansicht
- Statistisches Bundesamt: Deutschland, Bevölkerung, Erwerbspersonen, Erwerbstätige und Erwerbslose, Arbeitsmarkt, Arbeitnehmer im Inland nach Wirtschaftssektoren, Web-Ansicht
- Karl-Heinz Meier-Braun: Ramadanfeier im Kölner Dom. 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei. Stuttgart 2011. Unveröffentlichtes Manuskript.
- Karin Hunn: »Nächstes Jahr kehren wir zurück...« Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« in der Bundesrepublik. Wallstein 2005, S. 35f.
- Günther, Frieder: Heuss auf Reisen. Die auswärtige Repräsentation der Bundesrepublik durch den ersten Bundespräsidenten, Stuttgart 2006, S. 120f.
- Hunn, Nächstes Jahr, S. 42. Vgl. dazu Meier-Braun: Ramadanfeier.
- Ebd, S. 38.
- Ebd, S. 33f.
- Ercan Karakoyun, Deutsch-Türkische Nachrichten, 25.5.2011, Web-Ansicht, Stand 25.09.2011.
- Vgl. dazu ebd. S. 32 und Hunn, Karin: Die Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei im Kontext der bundesdeutschen Ausländerbeschäftigung und Ausländerbeschäftigungspolitik (1955 – 1973), 2011. Unveröffentlichtes Manuskript.
- BAVAV an Dreyer, Ankara 26.11.1956, BArch, B 119/3070, zitiert nach Hunn, Nächstes Jahr, S. 38.
- Vgl. dazu Hunn, Nächstes Jahr, S. 44f und Monika Mattes »Gastarbeiterinnen« in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren. Frankfurt und New York 2005, S. 41ff.
- Diplomatische Tauschgeschäfte
- Siehe dazu Hunn
- Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik, Bonn 2003, S. 207.
- Hunn: Die Anwerbung.
- Sonnenberger, 92f.