Schott AG

»Die Gastarbeiter kommen«

Es herrscht Vollbeschäftigung in der Bundesrepublik Ende der 50er Jahre. Das Glaswerk in Mainz kann den schnell wachsenden Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr decken. Bei Spezialgläsern boomt die Nachfrage. In der weitgehend maschinellen Produktion werden neben stählernen Greifarmen immer noch viele Hände gebraucht – für das Umsetzen von Fernsehglasteilen, das Verpacken von Laborgläsern, das Aussortieren fehlerhafter Presslinge. Weder die verstärkte Ausbildung von Nachwuchs noch die Werbung um neue Mitarbeiter im ganzen Land entlastet die angespannte Situation nachhaltig. 

Deshalb schaut sich die Personalleitung im Ausland um. Zunächst prüfen die Anwerber aus Mainz das Arbeitskräftepotential im industriell noch weniger entwickelten Süden Europas, in den beliebten Urlaubsländern Italien und Spanien. 1960 kommen die ersten Gastarbeiter zu Schott. 263 Italiener, 76 Spanier, 17 »Sonstige« nennt die Statistik zum Geschäftsjahresende. Das sind auf Anhieb gleich 10 Prozent der Belegschaft von Schott in Mainz.

Ankunft von Gastarbeitern am Bahnhof
1950er –1960er: In den späten 50er und frühen 60er Jahren kommen Gastarbeiter aus Italien, Portugal, Griechenland, Spanien, der Türkei und Jugoslawien nach Deutschland. Im Zuge des Wirtschaftswunders benötigt die Bundesrepublik dringend Arbeitskräfte. © Stadtarchiv Karlsruhe

Ein Bäcker wird Dolmetscher

In der Personalabteilung überwindet der junge Genuese Franco Arata von Anfang an als Dolmetscher für Italienisch und Spanisch die Sprachbarrieren der Neuankömmlinge. Ob bei ärztlichen Untersuchungen, bei der Beschaffung von Papieren oder bei der Einweisung in die Quartiere – überall ist Franco dabei und tut alles, um aus dem Gast im fremden Land einen Mitarbeiter zu machen. Er selbst hat sein Deutsch als Bäckergeselle in Mainz-Mombach auf der Volkshochschule gelernt. Solchermaßen gerüstet wechselt er zu Schott, kurz bevor die ersten seiner angeworbenen Landsleute eintreffen. 

Die wohnen zumeist in Behelfsbauten an der Rheinallee. Dort hat Schott in aller Eile Schlaf- und Gemeinschaftsräume bereitgestellt. Kartenspiel ist Trumpf an den freien Abenden im Wohnheim. Fußballübertragungen bilden die Höhepunkte fröhlicher Männerrunden im Fernsehzimmer. Ein kleiner Teil der Gastarbeiter findet Unterkunft im »Ledigenheim« des Werkes. Nur wenige leisten sich Privatquartiere.
 

1965 schon 23 Nationalitäten

Innerhalb von fünf Jahren, bis 1965, wächst die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte im Glaswerk auf über 900 – und damit auf ein Viertel der Belegschaft. Mehr als die Hälfte davon ist beheimatet im »Land, wo die Zitronen blüh‘n«. Die Werkszeitschrift gibt es daher auch mit einer Beilage in italienischer Sprache. Aber auch die Spanier stellen drei Hundertschaften der Arbeitnehmer. Unter den jetzt 85 »Sonstigen« rangieren die Herkunftsländer Österreich und Griechenland auf den ersten Plätzen. Von Algerien bis Uruguay finden Mitarbeiter aus 23 Nationen Lohn und Brot in der Mainzer Spezialglasproduktion. Der weitaus größte Teil davon ist männlich.

Fünf Arbeiter verschiedener Nationalitäten am Arbeitsplatz
Strikte Neutralität: Die Unternehmenskultur sichert spannungsfreie Zusammenarbeit der multinationalen Belegschaft.

»Zwei kleine Italiener...«

Im Radio besingt der Teenager-Star Cornelia Froboess die Empfindungen und Sehnsüchte der Gastarbeiter in Deutschland mit dem Ohrwurm »Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli ...«. Von Anatolien ist da noch nicht die Rede. Das soll sich bald ändern. Genau zwei Jahre nach dem Abschluss des deutsch-türkischen Anwerbevertrags tritt 1963 Varacan Onaran aus Istanbul als erster türkischer Mitarbeiter ins Glaswerk ein. Ihm folgen schnell viele Kollegen vom Bosporus an den Rhein. Innerhalb kurzer Zeit überrundet die Gruppe der Türken die Italiener und hält die Spitzenposition dann für Jahrzehnte.
 

Unternehmenskultur sorgt für Harmonie

Viele der Schottianer mit ausländischem Pass fühlen sich bald so wohl, dass sie zu »Dauergastarbeitern« werden. 1970 können immerhin dreißig Italiener der ersten Stunde ihr zehnjähriges Betriebsjubiläum bei Schott in Mainz feiern. Mehr und mehr ausländische Mitarbeiter übernehmen jetzt auch Stellen mit höherer Verantwortung – als Konstrukteure und Leiter von Produktionslinien. Spannungen zwischen unterschiedlichen Ethnien gibt es so gut wie gar nicht. Da bewährt sich einmal mehr die Unternehmenskultur des toleranten Umgangs miteinander und die geforderte strikte Neutralität in allen Fragen der Nationalität und der Religion. Schon das Stiftungsstatut als Unternehmensverfassung schreibt vor, dass bei der »Anstellung (...) jederzeit ohne Ansehen der Abstammung (Anm.: Abbe meinte damit allerdings die gesellschaftliche Herkunft), des Bekenntnisses und der Parteistellung verfahren werden« muss.

Wohnheim mit Gastarbeitern
Dach über dem Kopf für die ersten Gastarbeiter: Das Glaswerk stellt das »Ledigenheim« auf dem Werksgelände, Behelfsheime an der Rheinallee...
Gastarbeiterfamilie am Tisch
... und Wohnblocks für nachziehende Familien bereit.

Träume des »Tenors von Mainz«

Nicola Cavuto ist Schneider in einem kleinen Abruzzendorf. 1960 beantragt er eine Arbeitserlaubnis für Deutschland und steigt in Mainz aus dem Zug. Mit 36 Landsleuten fährt er im Lastwagen zum Glaswerk. Sechs Jahre will er bleiben. Er findet Gefallen am Umgang mit Glas, am rheinischen Leben, wird nebenbei Hausmeister des Behelfsheims für die ausländischen Mitarbeiter von Schott, später auch in den ersatzweise gebauten Wohnblocks. Nach fünf Jahren holt er Frau und Tochter nach. Er findet Freunde und vergisst die Heimkehr. 

Überregional feiert man den Italiener Nicola Cavuto als »Tenor von Mainz«, denn sonntags schmettert er im Kolpinghaus Arien von Rossini und Verdi. Beim Gonsenheimer Carneval- Verein »Die Schnorreswackler« tritt er als Solist auf. Er engagiert sich für Jugendliche und wird dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

Nach 31 Jahren bei Schott geht Cavuto in Rente und genießt die Firmenpension. Trotz seiner rundum gelungenen Integration bekennt er in einem Interview: »Ich träume jede Nacht davon, wieder in die Abruzzen zu kommen.« Doch seine Frau will nicht zurück, und die Tochter schon gar nicht.

Nicola Cavuto auf der Bühne am Mikrofon
Nicola Cavuto, der »Tenor von Mainz«.

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