Die Ausgangssituation in den Herkunftsländern

Die Anwerbeländer wiesen bei allen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten auf: Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch weitgehend agrarisch geprägt, ihre Industrie entwickelte sich nur langsam, gleichzeitig nahm der Bevölkerungsdruck zu. Als eine Maßnahme gegen die Arbeitslosigkeit setzten die Regierungen auf die Emigration. Anfangs wirkte sich die Abwanderung zumeist positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung aus, die Devisenüberweisungen trugen zum Ausgleich der Handelsdefizite bei, und die Rückkehrer bauten Häuser und investierten ihr Geld in die heimatliche Wirtschaft. Mit der Zeit kristallisierte sich jedoch heraus, dass immer mehr qualifizierte Arbeiter den Weg ins Ausland gingen und mit zunehmender Verweildauer immer weniger Geld in die Heimatländer zurückfloss. Damit war es für die Anwerbeländer nicht mehr so attraktiv, Arbeitskräfte zu exportieren.[1]

Karte der Reisewege von den Anwerbeländern nach der BRD (1965)
Reisewege von den Anwerbeländern in die Bundesrepublik, Bundesanstalt für Arbeit 1965.

Italien

Die große Mehrheit der italienischen Gastarbeiter – 1973 lebten ca. 450.000 Italiener in Deutschland – kam aus dem industriell unterentwickelten Süden der Halbinsel. Das krasse Nord-Süd-Gefälle hatte sich erst sei der Einigung Italiens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Im Norden war die Industrialisierung kräftig gefördert worden, während der Süden immer stärker ins Hintertreffen geriet. Italien südlich der Linie Grosseto-Pescara war noch 1945 nahezu ein Entwicklungsland mit den typischen Problemen der Überbevölkerung und Unterernährung. Die italienische Regierung förderte deshalb seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Emigration, um den Bevölkerungsdruck abzumildern. Insgesamt wanderten von 1946 bis 1972 über sieben Millionen Menschen aus, davon kehrten 3,2 Millionen nicht wieder nach Italien zurück.[2] Die Einführung der vollen Freizügigkeit 1968 innerhalb der Mitgliedsstaaten der EWG führte zu einer grundlegenden Änderung der Anwerbepraxis. Italiener, die in der Bundesrepublik arbeiten wollten, suchten sich jetzt in der Regel auf eigene Faust eine Arbeitsstelle wodurch die staatliche Einflussnahme deutlich zurückging.[3]

Griechenland

Griechenland blieb bis in die 1960er Jahre ein weitgehend agrarisches, kaum industrialisiertes Land. 1960 setzten nur 31 Prozent aller Industriebetriebe Maschinen ein. Zwischen 1960 und 1971 wanderten mehr als 300.000 Griechen nach Deutschland aus. Ihnen stand ab 1967 eine – trotz der bis 1973 andauernden Militärdiktatur – immer größer werdende Zahl von heimkehrenden Gastarbeitern gegenüber, die sich, nicht zuletzt wegen des raschen wirtschaftlichen Aufschwungs in Griechenland, schnell wieder integrierten.[4]

Türkei

Die Türkei der 1960er und 1970er Jahre war noch stärker als die anderen Mittelmeerländer von der Landwirtschaft geprägt: 1962 arbeiteten 77 Prozent der Bevölkerung in diesem Wirtschaftszweig. Die Mehrzahl der Arbeitsmigranten war überdurchschnittlich qualifiziert: 80 Prozent und damit fast doppelt so viele wie im Landesdurchschnitt, verfügten über eine abgeschlossene Schulausbildung und nur 5,6 Prozent gegenüber 46 Prozent der üblichen türkischen Arbeitskräfte waren Analphabeten. Infolge der Modernisierungspolitik der Militärregierung wanderten zwischen 1961 und 1973 mehr als 800.000 Personen aus der Türkei ab, von denen etwa 600.000 offiziell entsandt wurden, der Rest verließ die Türkei auf anderen legalen Wegen. Zurück kehrten im gleichen Zeitraum etwa 240 000 Personen. Zeitweise standen über eine Million Ausreisewillige auf den Listen der Anwerbekommission in der Türkei, die mit Wartezeiten bis zu sieben Jahren rechnen mussten.[5]

Feldarbeiter in der Türkei mit Schaufel und zwei Kindern
Bei der Feldarbeit in der Türkei, ca. 1962.

Spanien

Aus dem Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 war – auch durch die Unterstützung der deutschen Nationalsozialisten – der Militärdiktator General Franco siegreich hervorgegangen. Unter den Ministern des ultrakatholischen »Opus Dei« stieg nach 1957 die Arbeitslosigkeit rapide. Dafür sollte der Arbeitskräfteexport nach Mitteleuropa ein Ventil bilden. Zwischen 1960 und 1969 wanderten 1,5 Millionen Spanier aus. Ab 1962 jedoch begann in Spanien das Jahrzehnt des Wirtschaftswunders, wodurch der Trend zur Arbeitsmigration allmählich abflaute. 1973 arbeiteten nur 190.000 Spanier in Deutschland.[6]

Portugal

Seit Mai 1926 war Portugal eine Diktatur unter wechselnden, meist der Generalität angehörenden Staatspräsidenten, die erst 1975 mit dem Sieg der Sozialistischen Partei in eine Zeit der politischen Stabilität mündete. Fast die Hälfte der Fläche des Landes wurde in Portugal als Ackerland genutzt. Die Landwirtschaft war rückständig und konnte nur wenige Arbeitskräfte binden, deshalb arbeiteten 1973 etwa 500.000 Portugiesen – 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung – offiziell im Ausland. Lediglich 85.000 kamen 1973 nach Deutschland.

Jugoslawien

Die Kommunisten eroberten 1945 die Macht in Jugoslawien, das zu dieser Zeit zu den wirtschaftlich rückständigsten Ländern Europas gehörte. Staatschef Tito vollzog den Bruch mit der Sowjetunion und löste die zentralistische Planwirtschaft durch eine zentrale Rahmenplanung ab, die 1965 mit der Einführung der sozialistischen Marktwirtschaft endete. Die wirtschaftliche Entwicklung des Staates verlief regional sehr unterschiedlich, was sich deutlich an der hohen Arbeitslosigkeit der weniger entwickelten Republiken wie Kosovo, Montenegro und Mazedonien zeigte. Anders als von der Regierung geplant, die mit Hilfe der Abkommen den Arbeitsmarkt der wirtschaftlich schwachen Regionen entlasten wollte, wurden jedoch vor allem qualifizierte Facharbeiter aus den besser entwickelten Teilrepubliken Kroatien und Slowenien angeworben. 1973 arbeiteten etwa 850.000 Jugoslawen – rund 9,5 Prozent aller jugoslawischen Erwerbstätigen – im europäischen Ausland, zwei Drittel davon in Deutschland.[7]

Petra Habrock-Henrich M.A. und Dr. Henriette Holz: »An den Rhein – der Arbeit wegen« Ausländische Arbeitnehmer im Raum Koblenz 1955-1980. (Koblenz 2005)

Gruppenfoto mit Erntearbeitern und Erntearbeiterinnen (1962)
Hopfenernte in Slowenien, 1962.

Quellenangaben

[1] DUNKEL 2000, S.35.
[2] DELHAES-GÜNTHER 1976, S.5.
[3] Dritte Freizügigkeitsregelung der EWG, Nr. 1612/68 vom 15.10.1968: Sie garantiert die völlige Gleichberechtigung der Arbeitnehmer aus den Mitgliedsstaaten (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande) beim Zugang zu offenen Arbeitsstellen. EWG-Angehörige brauchen seitdem keine Arbeitserlaubnis mehr.
[4] INSTITUT FÜR ZUKUNFTSFORSCHUNG 1981, S. 284 und S. 305.
[5] DELHAES-GÜNTHER 1976, S. 10.
[6] LUTTER 1980, S., 9ff. 21 der 50 Provinzen sind noch heute ständige Abwanderungsgebiete.
[7] DUNKEL 2000, S.34.

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