Spanien – Migrationstradition über Jahrhunderte

Gebirgszug der Pyrenäen
Im Zuge der Niederlage der spanischen Republik 1939 flüchteten rund 500.000 Spanier über die Gebirgszüge der Pyrenäen, um sich den Truppen des spanischen Generals Franco zu entziehen [1].

Die neuere Geschichte Spaniens ab dem 19. Jahrhundert ist eine Geschichte des Auswanderns. Selbst in den Glanzzeiten des spanischen Weltreiches verließen hunderttausende aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat, um in anderen Ländern ihr Glück zu suchen. Lateinamerika war seit den Tagen der Entdeckung des neuen Kontinents das Hauptziel der Auswanderer. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Wege der Migration. Zunehmend wanderten Spanier ins nahegelegene Frankreich aus und verdienten als Landarbeiter ihr Brot. Der spanische Bürgerkrieg ließ 1936 diese Bewegung zu einem unkontrollierten Flüchtlingsstrom anschwellen.

Arbeitsmigration unter der Regierung Francos

Der Sieg des autoritären Regimes beendete vorerst alle weiteren Auswanderungen. In einer Phase der innerpolitischen Konsolidierung übte die Regierung Francos ihre Macht in despotischer Weise aus. Historiker vermuten, dass damals weit mehr als 100.000 Menschen den politisch motivierten Säuberungen zum Opfer fielen.

Während des Zweiten Weltkriegs befand sich Spanien in einer neutralen Position gegenüber allen Machtblöcken. Außenpolitisch galten Francos Sympathien den »Achsenmächten« Deutschland und Italien. Vor allem das Deutsche Reich profitierte von den freundschaftlichen Beziehungen durch Lieferungen von kriegswichtigen Rohstoffen für die Rüstungsproduktion.

Die engen Kontakte führten bereits 1941 zu ersten Versuchen, spanische Arbeitskräfte anzuwerben: Die Deutsche Arbeitsfront (DAF) war daran interessiert, 100.000 Arbeiter für die deutsche Kriegsindustrie zu gewinnen. Bis 1943 schickte Spanien 8.000 Menschen nach Deutschland. Ihre Zahl reduzierte sich aufgrund der wachsenden Distanz zu Hitler auf 1.000 spanische Rüstungsarbeiter zu Kriegsende [2].

Wirtschaftlich orientierte sich die nach dem Bürgerkrieg geschaffene politische Lage, die »Estado Nuevo«, an planwirtschaftlichen Vorgaben. Die zentrale Steuerung des Wirtschaftsprozesses spiegelte sich außenpolitisch in einer »Autarkiepolitik« wieder, die sich zwangsläufig durch die politische Isolierung Spaniens nach dem Zweiten Weltkrieg ergab.
 
Der Staatsdirigismus führte Spanien in einen anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang. Von dem wichtigsten wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramm der USA – dem Marshallplan von 1948 – ausgeschlossen, blieb das Land ein rückständiger Agrarstaat, der selbst Grundnahrungsmittel rationieren musste.

Politische Eliten bestimmten das Geschehen. Ein Großteil der Bevölkerung lebte in bitterer Armut und politischer Unfreiheit. Noch Anfang der 1970er Jahre mussten sich mehr als 680.000 Arbeitnehmer mit dem gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von 136 Peseten (6,60 Mark) pro Tag begnügen. In den Regionen Andalusiens oder in der Estremadura arbeiteten viele Landarbeiter sogar unterhalb dieses Minimums. Sie waren damit konfrontiert, ein ganzes Jahr von dem zu leben, was sie in den etwa acht Monaten Feldarbeit verdienten [3].

Erst mit der zunehmenden Einbindung Spaniens in die westliche Staatengemeinschaft begann sich der spanische Binnenmarkt in den 1950er Jahren der Weltwirtschaft zu öffnen. Die Folgen waren drastisch. Die gemeinsam mit der handelspolitischen Liberalisierung eingeführten wirtschaftspolitischen Modernisierungsprogramme ließen den bis dahin dominierenden Agrarsektor zusammenbrechen. Eine rasant anwachsende Binnenwanderung der Landbevölkerung aus den Provinzen in die Städte setzte ein. Sieben Millionen Menschen waren davon betroffen [4].

In dieser kritischen Lage versprach sich das Regime von einer kontrollierten Emigration eine Stabilisierung der sozialen Spannungen. Die Regierung Francos wich damit von seinen bisherigen Bedenken ab, eine größere Anzahl von Spaniern ins Ausland gehen zu lassen. Die Sorge vor größeren sozialen Unruhen überwog die Furcht, Arbeitsmigranten könnten im Ausland politischer Beeinflussung ausgesetzt sein.


»Spanien kann sich das Risiko von massivem Stillstand und Arbeitslosigkeit nicht leisten. In dieser Hinsicht ist jede Lösung gut – auch die Emigration – nicht nur für die Gesellschaft sondern eher für den Emigranten. […] Die Emigration ist ein kleineres Übel […] und ein anderer Nutzen sind die höheren Gehälter in Deutschland.»

— Manuel Alonso Olea Generaldirektor im spanischen Arbeitsministerium, 1963 [5]


Karte der einzelnen spanischen Regionen

Für die blühende deutsche Wirtschaft bot die Entwicklung in Spanien ein weiteres, dringend benötigtes Arbeitskräftereservoir. Zwar unterstützten seit dem Anwerbeabkommen Deutschland – Italien 1955 zahlreiche Arbeitskräfte aus dem »Stiefel« die deutsche Wirtschaft, doch konnte Italien wenige Jahre später aufgrund des eigenen, zunehmenden Wirtschaftswachstums nicht mehr genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stellen.

Obwohl die deutsche Bundesregierung den italienischen Markt noch nicht für erschöpft hielt, wandten sich bereits einige Deutsche Firmen mit der Bitte um Verstärkung an die spanische Botschaft in Bonn. Die Initiativen der deutschen Unternehmen dienten der Regierung Francos, auf ein offizielles Verfahren zur Anwerbung und Vermittlung von Arbeitskräften hinzuwirken. Ende 1959 gab die deutsche Seite ihre Bedenken gegenüber einem weiteren Anwerbeabkommen auf. Die Verhandlungen mündeten am 29.März 1960 in der Unterzeichnung der »Vereinbarung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Spanischen Staates über die Wanderung, Anwerbung und Vermittlung von spanischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland«, so die offizielle Bezeichnung [6].

Unterzeichung des deutsch-spanischen Abkommens
Unterzeichung des deutsch-spanischen Abkommens über die Wanderung, Anwerbung und Vermittlung von spanischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland durch den spanischen Botschafter Marqués de Bolarque und Staatssekretär van Scherpenberg am 29. März 1960 im Auswärtigen Amt .

Unterzeichner: Botschafter Marqués de Bolarque und Staatssekretär van Scherpenberg rechts vorne: VLR Hoffmann im Hintergrund: Herr Sorribes, eine Dolmetscherin, Ministerialdirektor Dr. Janz, Ministerialdirigent Ehmke, LR I Schmiedt, von Braun (halb verdeckt).

Der Traum vom großen Glück

Abseits der touristischen Routen, dort wo man auf kurvenreichen Strecken lange fahren kann, ohne auf eine menschliche Ansiedlung zu treffen, offenbaren sich die Gründe für die einstige Bereitschaft auszuwandern. Eingebettet in einer einmaligen Landschaft finden sich schlichte Dörfer, deren Bewohner Geschichten von bitterer Armut und einem kargen Leben erzählen können.

Bergdorf in Spanien

»Schuhe hatten wir keine, wir liefen die ganze Zeit barfuss durch die Gegend. Woher sollte mein Vater auch das Geld nehmen. Zu Hause waren wir 12 Geschwister, die alle in einem großen Raum schliefen. Als eines der jüngsten Kinder hatte ich Glück und durfte die Schule bis zur sechsten Klasse besuchen. Für die älteren war schon nach der vierten Schluss. Sie sollten schon bald dem Vater auf dem Feld helfen.« (Maria F.)

1960 belief sich ein durchschnittliches spanisches Jahresgehalt auf rund 315 Dollar. Das reichte kaum, um eine Familie zu ernähren. Die regionalen Lebensverhältnisse waren sehr unterschiedlich. In den fruchtbaren Landstrichen an der Küste, in den größeren Städten und in den industrialisierten Gebieten im Baskenland, in Barcelona und um Madrid gab es Zeichen eines bescheidenen Wohlstands. In Mittel- und Westspanien hingegen offenbarten sich drastische Verhältnisse: »Fährt man durch diese wie leer anmutende Hochebene im Inneren Spaniens, so erscheinen die Dörfer wie trostlose Anhäufungen erdbrauner, lehmiger Kästen, hier und da mit Stroh durchsetzt. Der Anblick ist deprimierend. Die Armut ist hier unabwendbares Schicksal.«

Frauen auf einem Treppenaufgang

Hinzu kamen die extremen klimatischen Bedingungen. Die erdrückende Hitze im Sommer oder der ständige Wind im Winter, der erbarmungslos und kalt schneidend durch die Ritzen der Fenster drang. Nicht umsonst spricht ein altes kastilisches Sprichwort von »neun Monaten Winter und drei Monaten Hölle«.

Wer in Barcelona vom Hafen zum 173 Meter hohen Hausberg Montjuïc hinaufblickt, erkennt ein weiteres Motiv zum Auswandern. Auf seinem Gipfel befindet sich die Festung »Castell de Montjuïc«. Innerhalb der Festungsmauern befand sich lange Zeit ein berüchtigtes Militärgefängnis in dem man, wie an vielen anderen Orten, Oppositionelle der Regierung Francos unterbrachte. Neben direkten Gegnern der Diktatur, die wegen politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung direkt in den Fokus des Staates gerieten, waren viele einfache Menschen aus geringen Gründen »verdächtig«. Die politische Elite entschied dabei sehr willkürlich, was unter »Opposition« zu verstehen sei. Unter Franco wurde bereits das Sprechen der baskischen Sprache, das Tanzen des katalanischen Volkstanzes, der Sardana oder eine antikonfessionelle Haltung als oppositionell bezeichnet. Dies konnte dazu führen, im Falle eines Ausreisewunsches als »politisch unzuverlässige Person« eingestuft zu werden, der eine Ausreise verweigert wurde. So blieb den Betroffenen als einziger Ausweg die illegale Auswanderung.

Neben politischen Motiven waren wirtschaftliche Gründe für die Anwerbung jenseits der Grenze entscheidend. Wer noch Zweifel an einer »Arbeit auf Zeit« hegte, den überzeugten die Aussagen der Landsleute, die ihren Urlaub in der Heimat verbrachten: In Deutschland liege das Geld sprichwörtlich auf der Straße, so hieß es. In ein bis zwei Jahren könne man sich sogar das eigene Haus in Spanien leisten.

Wer sich im Rahmen des Anwerbeabkommens für eine Tätigkeit in Deutschland entschied, benötigte keine besonderen Fachkenntnisse. Die Firmen suchten in der Regel ungelernte Arbeiter für die maschinelle Massenproduktion. Junge und gesunde Männer und Frauen mussten es sein, um den deutschen Sozialsystemen nicht zur Last zu fallen. »Man suchte Hände und Beine, die irgendwelche Hebel und Schalter am Band zu betätigen hatten. Diese Sicht spiegelte sich auch in Anfragen deutscher Firmen wieder, die davon sprachen‚ sofort ›fünf Stück Hilfsarbeiter‹ zu schicken«. (Hans-Jörg Eckardt, Anwerbungskommission, 1966)

Auszug aus der Zeitung »Allgemeine Zeitung Mainz«
Wenige Tage nach Unterzeichnung des deutsch-spanischen Anwerbeabkommens.

Die Aussicht mit Taschen voller Geld in ein paar Jahren nach Hause zurück zukehren, war verlockend. In den armen Regionen Spaniens setzte nach der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens ein Ansturm auf die einheimischen Meldebehörden ein. Die Zahl der Spanier in Deutschland wuchs von rund 16.500 Beschäftigten auf einen vorläufigen Höchststand von fast 183.000 im Jahre 1965 an. 1973 erreichte die Zahl spanischer Arbeitsmigrantinnen und -migranten mit 286.000 ihren Höhepunkt. Insgesamt geht man heute von ca. 600.000 Spaniern aus, die im Zeitraum zwischen 1960 und 1973 nach Deutschland migrierten [8].

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Quellenangaben

  1. Axel Kreienbrink-Herrero: Aspectos da inmigración española, portuguesa e iberoamericana en Alemaña, S. 109-129, in Estudios Migratorios, No. 10, Santiago de Compostela 2000.
  2. Antonio Munoz Sánchez, Die spanische Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland, in: Domit: Projekt Migration, Köln 2005
  3. Manuel Alonso Olea Generaldirektor im spanischen Arbeitsministerium, 1963), Gloria Sanz Lafuente, Mujeres espanolas emigrantes y mercado laboral en Alemania, 1960-1975.
  4. Monika Mattes, Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik, Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt 2005, S. 35ff.
  5. Ernst Buchloh, Informationen für betriebliche Führungskräfte, Spanier als ausländische Mitarbeiter, Nürnberg, o.J.
  6. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, Bonn 2003, S. 198f. und Antonio Munoz Sánchez, Die spanische Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland, in: Domit: Projekt Migration.