Silva Burrini erzählt
»Ich bin für die Menschen gekommen und geblieben«
— Silva Burrini
»Mir war klar, ich muss zunächst für die Familie etwas tun, ich kann nicht an mich denken.« Bereits mit 14 Jahren fühlte sich Silva Burrini nach dem frühen Tod des Vaters für ihre Mutter und den sieben Jahre jüngeren Bruder verantwortlich. Ihre Träume, den kleinen Ort Vigo Rendena in der Provinz Trient in wenigen Jahren zu verlassen um ein Studium zu beginnen, schwanden dahin. Es musste Geld verdient werden, um die Familie zu unterstützen. Doch war das in der ländlichen Region der 1950er Jahre alles andere als einfach. Bis zum Jahr 1957, in dem ihr Leben eine unvorhergesehene Wende nahm:
Silva Burrini mit ihren eigenen Worten
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Dann ergab sich, dass diese benachbarte Familie, die seit Jahren schon in Deutschland lebte, ein Geschäft hatte, ein Stahlwaren-Geschäft, die mich praktisch mehr oder weniger eingeladen hat: "Komm, du kannst bei uns im Haushalt ein bisschen helfen, dann lernen unsere Kinder Italienisch mit dir und du kannst von ihnen Deutsch lernen." Und dann hab‘ ich gedacht: "In dieser Situation ist das ein Weg. Ich kann Geld verdienen und ich kann Deutsch lernen. Also: ich mache das jetzt einmal." Das war im Jahre 1957. Dann hab‘ ich kurz darauf die Situation, einzelne Italiener, eben kennengelernt – da kamen die Massen dann. Menschen helfen - das hat mir schon immer Spaß gemacht. Ich wollte auch als junges Mädchen in die Dritte Welt - dorthin, wo Menschen sind, die Hilfe brauchen. Das hat mich immer begeistert, dass man da helfen kann. Und dann sind wir zueinandergekommen, die Probleme zu mir, und ich zu diesen Menschen, die Probleme hatten. Dann habe ich gedacht: Das wäre etwas, was ich machen kann!
Ohne Sprachkenntnisse reiste die damals 17-jährige in ein Land, das sie nur aus Berichten kannte. Trotz ihrer Zielstrebigkeit dauerte es seine Zeit, die neue Sprache zu lernen. Die wenigen Sozialkontakte, das aufflammende Heimweh und die Herausforderungen alltäglicher Kleinigkeiten waren hart für die kontaktfreudige junge Frau. Dennoch hielt Silva Burrini an ihrem Plan fest, erst einmal in Deutschland zu bleiben. Sie trat einer Jugendgruppe bei, in der sie damals die einzige Ausländerin war.
Silva Burrini mit ihren eigenen Worten
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Ich war in Italien in der katholischen Jugend, das hat mich ja auch geprägt. Und ich bin auch hier in eine Jugendgruppe gegangen. Ich hab‘ vieles nicht verstanden, aber die haben Rücksicht auf mich genommen. Es hat mir Spaß gemacht. Ich bin mit jungen Menschen zusammengekommen, ich bin mir nur wegen der Sprache als Fremde vorgekommen. Aber dass die Menschen mich hätten spüren lassen, oder dass ich benachteiligt worden wäre, das hab‘ ich nicht empfunden.
Rasch wurden aus den geplanten sechs Monaten eineinhalb Jahre, bevor die junge Italienerin in ihre Heimat zurückkehrte. Doch sollte dies nur von kurzer Dauer sein.
Ein Onkel berichtete ihr von einer Freiburger Arztfamilie, die ein Kindermädchen suchte. Für Silva Burrini, die Kinder schon immer liebte, erschien dies als neue Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu vervollständigen. In den kommenden zwei Jahren lernte die engagierte Italienerin nicht nur die deutsche Sprache, sondern kam auch ihrer Berufung ein bedeutendes Stück näher: anderen Menschen zu helfen!
Silva Burrini mit ihren eigenen Worten
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Dann hab‘ ich angefangen für die Italiener, die in Freiburg waren, ehrenamtlich zu arbeiten. Ich wurde immer wieder gerufen, da und dort, zum Dolmetschen, weil ja kaum jemand Deutsch sprach. Und im Jahre 1963 hab‘ ich mich dann entschlossen, die Stelle als Sozialberaterin bei der Caritas in Freiburg zu übernehmen. Dann hab‘ ich das also zehn Jahre lang getan. Das waren die ersten Jahre, wo wirklich unheimlich viele Probleme da waren. Und erst danach, im Jahre 1973, hab‘ ich mich entschlossen, nach Italien zurückzugehen und Sozialdienst zu studieren. Ich habe gedacht, diese Arbeit, wo ich Menschen helfen kann, gefällt mir und macht mir viel Freude. Ich will jetzt die Ausbildung machen und will dann ganz offiziell einsteigen. Und so habe ich das gemacht. Nachdem ich mit dem Studium in Rom und in Trient fertig war, bin ich dann im Frühjahr ’79 nach Ludwigshafen gekommen.
Bereits nach kurzer Zeit war sie im »Centro Italiano«, der italienischen Gemeinde Ludwigshafen, für alle Sorgen und Nöte ihrer Landsleute die zentrale Anlaufstelle. Seit Begin ihrer Tätigkeit bei der Caritas lagen ihr immer wieder die Schicksale der Kinder am Herzen. Mit aller Konsequenz leistete sie Hilfestellung im Schulalltag der Kinder, deren Sprachkenntnisse meist aufgrund des italienisch sprechenden Elternhauses sehr schlecht waren.
Silva Burrini mit ihren eigenen Worten
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Dann wird eben Italienisch gesprochen, das war ja immer das Problem: Was machen wir, wenn wir nach Italien zurückgehen? Was machen wir, wenn wir zurückgehen und die Kinder können kein Italienisch? Und das Schlimme war: Sie haben nicht genügend Italienisch gelernt für die italienische Schule, wenn sie zurückgegangen sind. Manche gingen zurück und kamen wieder, weil sie die italienische Schule nicht schaffen konnten. Ihnen fehlte so viel an Italienisch. Und sie haben nicht genug Deutsch gelernt, dass sie sich an einer deutschen Schule hätten integrieren können.
So kamen die meisten Kinder nicht aus den so genannten Vorbereitungsklassen heraus, die innerhalb der Grundschule die Sprachkenntnisse für weiterführende Schulen vermitteln sollten. Mit Hausaufgabenbetreuung, Kommunikation mit den Eltern und Behörden versuchte Burrini, den Integrationsprozess der nächsten Generation für eine förderliche Zukunft voranzutreiben.
Zugunsten der Menschen, die ihrer Hilfe bedurften, trat Silva Burrinis Privatleben jedoch gänzlich in den Hintergrund.
Silva Burrini hilft wo sie kann:
Silva Burrini mit ihren eigenen Worten
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Das muss ich Ihnen leider bekennen, dass ich für ein privates Leben keine Zeit gehabt habe, aber ich habe es ja auch nicht gesucht. Die ersten Jahre waren wir ständig unterwegs, Samstag, Sonntag inbegriffen. Ich kam von der katholischen Jugend, ich fühlte die Verantwortung für die ganzen Menschen. So war ich geprägt. Mir ging es nicht nur darum, dass sie arbeiten, eine gute Wohnung finden, und so weiter und so fort, die materiellen Dinge. Mir ging es um die Menschen, um ihren Geist und ihre Seele. Und da waren wir am Wochenende für die pastorale Arbeit unterwegs.
Bis zu ihrem 65. Lebensjahr trug Silva Burrini im Auftrag der Caritas für das Wohlergehen italienischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Ludwigshafen bei. An Ruhestand denkt sie nicht. Seit 2005 unterstützt sie ehrenamtlich die Hausaufgabenbetreuung in Ludwigshafen-Hemshof. »Ich bin für die Menschen gekommen und geblieben«, sagt sie. Ihr soziales Engagement wurde im Jahr 2000 mit dem »Stella al Merito del Lavoro«, dem Orden zum Dank für die Förderung der Integration gewürdigt. 2001 folgte die Verleihung des Landesverdienstordens für soziale Dienste. Für ihren »herausragenden Einsatz zum Gemeinwohl« erhielt sie am 03. Dezember 2009 aus den Händen der Ludwigshafener Oberbürgermeisterin Eva Lohse die »Bürgerschaftsmedaille«. Burrini habe »Pionierarbeit« geleitet, so Lohse, konkrete Hilfestellungen gegeben und Strukturen verändert. Als »Sprachrohr für Zuwanderer« habe sie auf Einladung der Bundeskanzlerin am nationalen Integrationsgipfel in Berlin teilgenommen.«
Wo nun, nach einem langen Lebensweg in Deutschland, ihre wahre Heimat ist, kann Silva Burrini nicht mit Bestimmtheit beantworten. »Meine Wurzeln sind in Italien, doch wenn ich in Italien bin, vermisse ich Ludwigshafen und die Menschen, die mir am Herzen liegen.«
Zu ihrem 80. Geburtstag zeichnete der SWR am 20.11.2020 noch einmal ihre Geschichte nach.
Der Beitrag ist abrufbar in der SWR-Mediathek unter "Silva Burrini - Ein Leben für die Integration