Hüseyin Kaya erzählt
»Ich hätte nie gedacht, länger als ein oder zwei Jahre zu bleiben.«
— Hüseyin Kaya
Als Hüseyin Kaya sein türkisches Dorf Cirik bei Pülümür verließ, sollte sein Lebensweg in Deutschland nur auf ein- bis zwei Jahre begrenzt sein. »Als ich am 01. April 1966 nach Deutschland kam hätte ich nie gedacht, dass aus den wenigen Jahren ein ganzes Leben würde« erzählt Hüseyin Kaya. Der gelernte Berufsschullehrer verdiente in der Türkei gut zu jener Zeit, doch reichte sein Gehalt nicht aus, den Lebensunterhalt für seine eigene Familie zu verdienen und darüber hinaus noch beide Brüder und deren Familien finanziell zu unterstützen. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters entsprachen die 35-jährigen nicht mehr den Regularien des Anwerbeabkommens. So bewarb sich Hüseyin Kaya für einen befristeten Aufenthalt als »Gastarbeiter« in Deutschland. Zuvor jedoch mussten er sowie alle anderen Ausreisewilligen herausfordernde Gesundheitsprüfungen über sich ergehen lassen:
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Das türkische Arbeitsamt jedoch suchte Kayas Ausreise zunächst zu verhindern:
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Ein Beamter vom türkischen Arbeitsamt sagte: "Herr Hüseyin, Herr Kaya, Sie sind Lehrer, wir können Sie nicht schicken." Ich sagte: "Sei ruhig, wir werden uns heute Abend in dem Restaurant treffen, da werden wir essen und trinken, bitte notieren Sie." Das hat er gemacht und so vier Wochen später bekam ich eine Einladung. Ich sollte nach Ankara zur deutschen Verbindungsstelle wegen einer medizinischen Untersuchung und auch für eine fachliche Prüfung. Dann bin ich nach Ankara gekommen. Ich bin von Ankara, die haben uns einen Termin genannt, und an dem Termin bin ich von Istanbul mit einem Arbeiterzug mit 800 Arbeitern nach München gefahren. In München haben wir wiederum Essen und so weiter bekommen. Dann sind wir nach Frankfurt, von Frankfurt nach Bingen und in Bingen haben der Betriebschef und auch der Personalchef uns mitgenommen, wir waren drei Leute. Ich habe meine Frau und zwei Kinder zurückgelassen und das war ein bisschen traurig. Aber für meine Brüder habe ich mich, naja, geopfert. In der ersten Zeit war es sehr schwer.
Erste Station: Eine Polsterfabrik in Gensingen
Im Gegensatz zu vielen anderen Gastarbeitern traf es Hüseyin Kaya in Deutschland gut an. Den Neuankömmlingen hatte das Gensinger Unternehmen unweit der Polsterei Zimmer bei privaten Vermietern organisiert. Für 50 Mark Miete monatlich konnte Hüseyin Kaya ein kleines Zimmer mit Kochnische sein Eigen nennen.
Im ersten Jahr seines Aufenthalts führte der türkische Lehrer das Leben eines einfachen »Gastarbeiters«. Sein Arbeitsalltag war mit dem Zusammenpressen von Möbelrahmen ausgefüllt. Dank seines handwerklichen Geschicks und Könnens, das er seiner fünfjährigen Ausbildung in einem türkischen »Gewerbeinstitut« verdankte, verlief die Einarbeitung rasch. All seine Energie jedoch konzentrierte sich auf das Erlernen der deutschen Sprache. Kommunikation und das Verständnis für die neue Kultur waren starke Triebfedern. Seine Bemühungen gingen zunächst nicht im erwünschten Tempo voran. Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede führten zu manchen Missverständnissen:
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Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Audiotranskript
In unserer Kreisstadt gingen am Feierabend oder am Samstag und Sonntag die Beamten, die Richter und die Lehrerschaft oder einfach auch Geschäftsleute, Männer mit Männern und Männer mit Frauen Arm in Arm spazieren. Deshalb ging ich hier in Gensingen mit meinem Zimmergenossen und Landsmann Bekir immer Arm in Arm spazieren. Auf einmal habe ich gesehen, dass die Deutschen in diesem kleinen Dorf uns so anschauten. Ich habe ihn gefragt: "Warum gucken die Deutschen uns so an?" Er sagte: "Weil wir schwarze Haare haben, wir sind Schwarzköpfe, deshalb gucken die uns so an." Und dann, an einem Sonntag, wollten wir zu unserem Zimmer kommen, um zu Mittag zu essen. Wir haben gesehen, dass unsere Hausbesitzerin Frau Gudert das Gartentor gesperrt hatte. Sie hat mit mir gesprochen, wir waren immer noch Arm in Arm. Sie hat gefragt: "Kaya, bist du warm?" Ich habe das nicht verstanden, damals konnte ich wirklich kein Wort Deutsch. Ich habe den Bekir gefragt: "Was will Frau Gudert von mir?" Er sagte, er habe auch nicht verstanden, aber er glaubt, dass sie etwas über das Wetter wissen möchte. Ich habe gesagt: "Bekir, wir haben kein Radio, wir haben keinen Fernseher, woher sollen wir wissen, wie das Wetter ist." Dann hat Bekir zum Himmel, zur Sonne geguckt. Der Himmel war wolkenlos und es war sehr warm. Und Bekir sagte: "Viel warm." Und als er das sagte, hab ich auch gesagt: "Viel warm." Und die Frau Gudert hat so ein Hand-Runter-Zeichen gemacht mit beiden Händen. Wir haben nicht verstanden, was sie meinte, aber wir haben gehofft, dass sie uns mal irgendein Essen gibt, was wir bezahlen, ein Hähnchen oder so etwas. Dann kam sie mit einem kleinen Zettelchen, darauf war ein S und an diesem S hing ein zweites S. Später haben wir erfahren, dass das "Paragraph" heißt. Und vor diesem Zeichen stand die Zahl 175. Immer wieder fragte sie mich: "Du so?" Und ich habe zu Bekir gesagt, dass bestimmt unsere Miete erhöht wurde. Wir bezahlten bisher 50 Mark, jetzt 175, diese Erhöhung können wir nicht zahlen. Damals hatte ich einen Stundenlohn von 3,34 Mark brutto. Diese Erhöhung hat uns den Appetit verdorben. Am nächsten Morgen sind wir, Bekir vorne und ich hinter ihm, mit dem kleinen Zettel zum Personalchef gegangen. Und dann hat Bekir diesen Zettel auf den Tisch gehauen und gesagt: "Chef, du auch so?" Der Personalchef ist blass geworden. Ich habe Bekir gefragt: "Was hast du gesagt?" Er sagte: "Ich habe versucht, zu fragen, ob er auch mit dieser miesen Erhöhung einverstanden ist." Und dann hat der Personalchef seine ganzen Angestellten mit einem Handzeichen zu sich gerufen, sie kamen und er hat mit ihnen gesprochen und den Zettel gezeigt und die haben alle gelacht und gelacht. Bekir sagte: "Gibt es hier keine Menschenrechte, dass man eine Mieterhöhung auch reklamieren darf? Warum lachen die überhaupt?" Dann kam der Betriebsdolmetscher, der hat mit dem Personalchef gesprochen. Er hat gefragt: "Warum seid ihr zum Personalchef gegangen?" Wir sind eben wegen der Mieterhöhung dorthin gegangen. Auf einmal hat der Personalchef mit der Frau Gudert, also der Hausbesitzerin, telefoniert. Dann sagte der Dolmetscher, dass es keine Mieterhöhung gibt. Er hat uns gefragt, ob wir Arm in Arm spazieren. Bekir war sehr ärgerlich dem Dolmetscher gegenüber und sagte: "Wir sind hier, um eine Mieterhöhung zu reklamieren und du redest davon, ob wir Arm in Arm spazieren gehen." Bekir war so ärgerlich. Er sagte: "In der Türkei gehen alle so, alle so." Der Dolmetscher versuchte sein Land zu verteidigen. Er sagte: "Nein nein, in der Türkei gehen nicht alle so." Und dann haben wir uns gefreut, dass es hier in Deutschland ganz anders verstanden wird als in der Türkei, wenn Männer Arm in Arm spazieren.
Entgegen seiner Planung blieb Kaya ein weiteres Jahr in Gensingen. Seine Deutschkenntnisse versuchte er durch ein Lehrbuch, das im Deutschunterricht an türkischen Gymnasien verwandt wurde, voranzubringen. Im Gegensatz zu seinen türkischen Kollegen, die in ihren eigenen Reihen blieben, suchte Kaya konsequent den Kontakt zu Deutschen. Bald schon arbeitete er mit ausschließlich deutschen Kollegen im Gruppenakkord zusammen, gab sein schwer verdientes Geld in Bad Kreuznach für Sprachunterricht aus, der im Vergleich zu seinem Stundenlohn von 3,34 Mark das Vierfache kostete. Was tun, um weiterhin den teuren Unterricht bezahlen zu können? Mit rund 90 Überstunden und einem Verdienst von 997 D-Mark konnte er seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen.
Die Kommunikation mit den deutschen Kollegen beschreibt der 1937 geborene Wahl-Mainzer als freundlich. Jedoch ein Streitpunkt flammte immer wieder auf, wenn es um das Arbeitstempo ging. »Türkische Arbeiter gaben im Einzelakkord ein ungemein schnelles Tempo vor, um ihren Fleiß unter Beweis zu stellen. Natürlich mit dem Ziel, ihre Arbeitserlaubnis verlängert zu bekommen« erinnert sich Kaya. »Dies kam bei den deutschen Kollegen sehr schlecht an, da ihre Leistung an den hohen Vorgaben der Türken gemessen wurde. Sie sagten immer »ihr geht nach ein-, zwei Jahren zurück in die Türkei und wir müssen weiter mit den hohen Arbeits-Anforderungen leben«.
Vom Arbeiter zum technischen Zeichner
1967, elf Monate nach seiner Ankunft in Deutschland, wandte sich das Blatt im Leben des anatolischen »Gastarbeiters«. Der Betriebsdolmetscher der Polsterei kündigte und Hüseyin Kaya, der mit Konsequenz die Sprache seiner neuen Heimat lernte, übernahm auf das Betreiben des Personalchefs hin die vakante Position. Kurze Zeit später sollten die Rauchgewohntheiten eines Kollegen ein weiters mal Schicksal spielen.
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Durch den guten Kontakt ihres Bruders zur Personalleitung erhielten die in der Türkei zurückgebliebenen Kaya-Brüder die Chance, einen Arbeitsvertrag mit der Gensinger Polsterfabrik zu schließen. Das finanzielle Familienproblem war nun gelöst. Nun sah es Kayas Zukunftsplanung vor, in die Türkei zurückzukehren, zumal das türkische Ministerium den Lehrer bereits angeschrieben hatte mit der Aufforderung, wieder zurückzukehren und seinen erlernten Beruf aufzunehmen. Doch wieder waren es die beiden älteren Brüder, die auf sein Schicksal Einfluss nahmen.
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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»Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten«
Als ich zurückgehen und wieder meinen Beruf starten wollte, haben meine Brüder gesagt: „Lass uns hier nicht allein, wir können kein Wort Deutsch.“ Und dann bin ich geblieben.
Die Familienzusammenführung
Die Entscheidung, seine Ehefrau Cemile Kaya nach Deutschland zu holen, lag nun nahe. An Arbeit sollte es der gelernten Schneiderin nicht fehlen. Ihre drei Kinder blieben zunächst noch in der Türkei bei Kayas Schwiegereltern zurück.
Nahezu 20 Jahre verlief das Leben der Kayas sehr linear, bis zu dem Tag, an dem die Verantwortlichen der Gensinger Polsterfabrik den Konkurs des Unternehmens bekannt gaben. Die Entlassungswelle erfasste auch das türkische Betriebsratsmitglied Kaya. Nach mehr als vier Monaten Arbeitslosigkeit wurde sein berufliches Leben ein weiteres Mal in neue Bahnen gelenkt und er brachte seine Erfahrungen als Sozialberaterbei der Arbeiterwohlfahrt ein.
1999 erreichte Hüseyin Kaya das Rentenalter und nun schien es für die auf allen Ebenen integrierte Familie an der Zeit, in die Heimat zurückzukehren. Doch die Rückkehr sollte nur von kurzer Dauer sein. Das Erdbeben im Marmara-Gebiet war für Cemile Kaya ausschlaggebend, die Türkei erneut zu verlassen.
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Wir haben gesagt: „Mann und Frau, wir können gemeinsam arbeiten und wir können sehr viel Geld sparen.“ Und auf einmal bekamen wir einen Brief von unserem ältesten Sohn. Er sei mit der Grundschule fertig und frage sich, was mit ihm wird. In dem Dorf gab es keine Mittelschule, kein Gymnasium und so weiter. Dann haben wir gesagt, wenn wir in den Urlaub fahren, dann nehmen wir unseren Sohn mit hierher. Er kann ein oder zwei Jahre hier zur Schule gehen. Dann wird er wieder zurückkehren und wir haben dieses Problem auch gelöst. Wir haben uns wirklich jahrelang selbst belogen: „Nächstes Jahr kehre ich zurück“ oder „zwei Jahre später kehre ich zurück“. Aus diesem „ein oder zwei Jahre später“ ist dann ein halbes Leben geworden.
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Nach diesem Konkurs bin ich zur Arbeiterwohlfahrt nach Bonn gegangen. Die suchten Sozialberater, weil ich als Betriebsdolmetscher und auch Vertrauensmann damals bei der Gewerkschaft in Bad Kreuznach Vorstandsmitglied war. Also über die Problematik wusste ich genug. Dann habe ich da alles erzählt und die haben mich als Sozialberater nach Germersheim geschickt und dort habe ich als Sozialberater gearbeitet.
Integration mit Erfolg
Seine lange Tätigkeit als Sozialberater und der Rückblick auf die Erfahrungen in seiner Jahrzehnte langen Migrationsgeschichte drängte den Ruheständler zu neuen Aufgaben. Jeden Dienstag betreut das Mitglied des Mainzer Ausländerbeirats kostenlos ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger in einem vom Caritas Verband zur Verfügung gestellten Raum.
Mit Bedauern registriert Kaya das Verhalten vieler Türken, die nicht den Kontakt zu Deutschen suchen, sich isolieren und so viele Integrationsmöglichkeiten nicht wahrnehmen. Die Basis einer erfolgreichen Integration, gerade im Hinblick auf die Zukunft junger Menschen, liegt laut Hüseyin Kaya ganz klar im Erlernen der Sprache.
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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Sprache ist sehr wichtig und mit Sprache kann man sehr viele Türen öffnen, wenn man seine Sorgen und seine Wünsche zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite darf man sich nicht isolieren von dieser Gesellschaft. Wir leben hier in Deutschland in dieser Gesellschaft und auf allen Ebenen des Lebens müssen wir mit der deutschen Gesellschaft in Berührung kommen: Theater besuchen, ins Kino gehen und auch verschiedene Veranstaltungen mitmachen wie Sport, Literatur und verschiedene andere Dinge. Das alles ist wichtig.
Heimat
Trotz erfolgreicher Integration bleibt für den sprachenbegeisterten Türken, der regelmäßig einen Englischkurs besucht, die ursprüngliche Heimat etwas ganz Besonderes.
Das Leben zwischen den Kulturen und das Thema »Heimat« stellte Hüseyin Kaya häufig in den Mittelpunkt seiner Illustrationen:
Hüseyin Kaya mit seinen eigenen Worten
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In der Heimat habe ich zum Beispiel meine zwei Brüder. Die haben hier gearbeitet und sind zurückgegangen. Deren Kinder sind hier, aber eine Menge Familienmitglieder, Verwandte, Bekannte, sind in der Heimat. Und wir älteren Menschen haben immer noch eine feste Verbindung mit der Heimat. Und ab und zu habe ich wirklich Heimweh und obwohl ich hier über deutsche Literatur und über deutsche Sitten und Gebräuche eine Menge gelernt habe, denke ich „Heimat… Heimat, Heimat.“
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