Die Türkinnen und Türken in der öffentlichen Wahrnehmung

Bis zum Beginn der 1960er Jahre genossen Türkinnen und Türken in Rheinland-Pfalz noch einen Exotenstatus. Erst mit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen von 1961 stieg die Zahl der bis dahin 783 Türkinnen und Türken zwischen Rhein und Mosel [1] zunächst langsam, dann immer schneller an. Im September 1964 weist die Statistik des Arbeitsamts 2.932 türkische Beschäftige im Arbeitsamtsbezirk Rheinland-Pfalz / Saarland auf, [2] deren Zahl sich bis 1969 auf 7.760 erhöhte [3]. Ein vorläufiger Höchststand wurde im Januar 1973 erreicht, als 21.504 Türkinnen und Türken im Bundesland lebten und damit die zweitgrößte Migrantengruppe nach den Italienerinnen und Italienern bildeten [4].

Zahlreiche uns heute fremd anmutende Berichte und »Aufklärungsbroschüren« versuchten in der Anfangszeit der »Gastarbeiterzuwanderung« die deutsche Bevölkerung über die Sorgen und Nöte der hier lebenden Türkinnen und Türken zu informieren, damit »wir diese Gruppe besser verstehen lernen.« [5] Zu den Türken: »Tadeln sollte man grundsätzlich nur unter vier Augen. Ein solcher Tadel wirkt mehr und wird vor allen Dingen auch angenommen – wenn er berechtigt ist! Tadel im Beisein anderer erweckt leicht Widerstand.« [6]

Die Aufnahme der ersten Türkinnen und Türken in Rheinland-Pfalz scheint nach diesen Berichten ein unkompliziertes Unterfangen gewesen zu sein. Dies war zum einen auf das Anpassungsvermögen der Ausländerinnen und Ausländer zurückzuführen, die bereit waren, sich in die vorhandenen Strukturen ein- und unterzuordnen. Auf deutscher Seite sah man die Ausländerbeschäftigung als notwendig an, ohne deren Hilfe sich das »Wirtschaftswunder« nicht entwickeln konnte[7].

Ramadanfeier.

Auch religiösen Bedürfnissen stand man in jenen Jahren aufgeschlossen und tolerant gegenüber. Das lässt sich an den zahlreichen Ramadan-Feiern ablesen, die in Rheinland-Pfalz aber auch deutschlandweit in Gotteshäusern und kirchlichen Einrichtungen abgehalten wurden. Über die Ramadan-Feier im Kölner Dom am 3. Februar 1965 schrieb die Kölner Rundschau: »ein Tag, der Religionsgeschichte gemacht hat«. Heutzutage wären ähnliche Feiern kaum noch möglich [8]. Damals aber war »der Islam in seinen religiösen Inhalten wenig bekannt, aber auch nicht negativ belegt, sondern wurde eher als ein anderer Glaube an den einen Gott gesehen.« [9]

Diese vorgelebte Toleranz war jedoch nicht auf allen Ebenen spürbar. Zur selben Zeit verweigerten Kölner Lokale den fast 2.000 in der Domstadt lebenden Türken durch diskriminierende Hinweise den Zutritt: »Wegen Schwierigkeiten mit ausländischen Gästen für Türken Lokalverbot« [10].   

Die wachsende Präsenz der italienischen, spanischen und vor allem türkischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter wurde in der Öffentlichkeit als Ärgernis angesehen. Man störte sich etwa an ihrer Anwesenheit an den Bahnhöfen, die aufgrund des fehlenden Platzes in den Arbeiter-Unterkünften am Abend und am Wochenende zum zentralen Treffpunkt wurden [11].

Aufnahmen aus der Zeit:

Deutsche und Türkische Kollegen beim Feiern am Tisch
Deutsche und Türkische Kollegen beim Feiern
Vierköpfige türkische Familie im Wohnzimmer
Türkische Familie in Deutschland.
Bewohner schaut aus dem Fenster eines heruntergekommenen Hauses
Wohnen in heruntergekommene Altbauten.
Türkische Frauen mit äußerst vollgepacktem Kombi
Rückkehr in die Türkei.

Mit der wachsenden, türkischen Bevölkerungszahl verlor sich das ihnen entgegengebrachte, kulturelle Interesse. Zunehmend empfanden Türkinnen und Türken ihren Alltag nun als »Leben in der Gegenschicht«. Gefühle von Fremdheit und Isolation, verbunden mit der Sehnsucht nach der vertrauten Heimat führten bei vielen zu seelischen Erkrankungen. In einer psychologischen Studie über Krankheitsbilder bei »Gastarbeitern« hieß es dazu:


»Heimwehstörungen«: starke Häufung von Kopfschmerz, Gewichtsverlust, Appetitmangel, Kräfteverfall (...)«

— [12] 


Hinzu kam, dass viele Hausbesitzer einen Vorteil aus der Situation der »Gastarbeiter, die auf preiswerten Wohnraum angewiesen waren« geschlagen hatten, indem sie heruntergekommene Altbauten in den Innenstädten überteuert vermieteten. Die Öffentlichkeit störte sich erst dann an dieser Situation, wenn dadurch »Gastarbeiterghettos« entstanden, in denen Ausländer mit den ihnen eigenen Lebensgewohnheiten die Situation prägten, was die Zeitschrift der Spiegel zum Titel »Gettos in Deutschland – Eine Million Türken« veranlasste[13].

Der Anwerbestopp vom November 1973 als Schlusspunkt einer offenen Zuwanderungspolitik von Migranten in die Bundesrepublik, leitete einen Wandel in der bundesdeutschen Ausländerpolitik ein, der sich an einer Vielzahl von unterschiedlichen Schlagworten festmachen lässt. Von nun an bestimmten Begriffe wie »Generation ohne Perspektive«, »Grenzen der Belastbarkeit«, »Rotationsprinzip« oder »Regionalsteuerung« die politische Diskussion. In ihrem Fahrwasser veränderte sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Ausländerbeschäftigung. Konkurrenzdenken und Überfremdungsängste rückten überall in den Vordergrund und schufen so den Nährboden für eine wachsende Ablehnung von Ausländerinnen und Ausländern, die sich vor allem gegen die türkische Bevölkerung  als größte Migrantengruppe, richtete. Sie wurden zunehmend als Problem wahrgenommen, wie etwa die Berichterstattung über den Kölner Fordstreik vom August 1973 zeigte.

Der öffentliche Diskurs hatte wiederum Einfluss auf die Ausländerpolitik. Nicht mehr die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts standen nun im Zentrum der Politik, sondern die Sicherung des sozialen Friedens durch Abschottung nach außen und Stärkung der Rückkehrbereitschaft der bereits hier lebenden Migrantinnen und Migranten. Insgeheim hofften sowohl Teile der Politik als auch der Gesellschaft, das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit der 1970er-Jahre durch eine Abwanderung von Ausländerinnen und Ausländern zu lösen [14]. Vor allem während der Regierungszeit Helmut Kohls versuchte man die Rückkehrbereitschaft mit finanziellen Mitteln zu fördern [15]. Rückkehrprämien für Türkinnen und Türken und andere ausländerpolitische Maßnahmen verstärkten eher die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den türkischen Einwanderern und führten dazu, dass sich türkische Familien teilweise abkapselten.

Anfang der 1990er Jahre spitzte sich die Lage weiter zu. Die ansteigende Globalisierung und die damit verbundenen, weltweiten Umbrüche führten nicht nur zu wirtschaftlichen Veränderungen. Durch die wachsende Anzahl von Asylanträgen, dem Zusammenbruch des Ostblocks (1989) und dem Krieg in Jugoslawien (1991) kamen neue Migrantengruppen nach Deutschland. Diese Zuwanderer verschärften die politischen Ausländerdebatten und überlagerten die Probleme der bereits ansässigen ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Familien. In der Bevölkerung verursachten diese Migrationsbewegungen und die fehlenden Antworten der Politik wachsende Überfremdungsängste und ausländerfeindliche Ressentiments, die sich gegen alle hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer richteten. Ihren negativen Ausdruck fand diese Stimmung in den Wahlerfolgen rechtsradikaler Parteien bei Landtags- und Europawahlen und in einigen fremdenfeindlichen Übergriffen, deren traurige und erschreckende Höhepunkte die Brandanschläge von Mölln 1992 und Solingen 1993 waren [16].

»Die Situation war unbeschreiblich. Die Brandanschläge von Mölln und Solingen, die Bilder in den Zeitungen, das ging an keinem Ausländer spurlos vorbei. Ich dachte: ,Ist das denn möglich? Kommen jetzt die Nazis und ihre Politik wieder zurück?‘ Und jeden Morgen musste ich auf dem Weg zur Arbeit an einer Mauer vorbei, auf der »Türken raus« stand. Bald hätte ich es gemacht, bald wäre ich freiwillig gegangen auch, weil mein Vater mich am Telefon immer anflehte: ‚Komm doch zurück, bevor dir etwas passiert.‘«[17]

Diese Vorfälle sorgten dafür, dass es noch lange dauern sollte, bis sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Türkinnen und Türken wieder normalisieren sollte, »… denn wer wollte schon in einem Land leben, in dem Landsleute starben.« [18]

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  1. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Hg.): Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung Ausländischer Arbeitnehmer, Erfahrungsbericht 1964, Beilage zu Nr. 2 der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Erfahrungsbericht vom 26.2.1965, S. 39.
  2. Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Hg.): Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung Ausländischer Arbeitnehmer, Erfahrungsbericht 1964, Beilage zu Nr. 2 der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Erfahrungsbericht vom 26.2.1965, S. 39.
  3. Bundesanstalt für Arbeit (Hg.): Ausländische Arbeitnehmer, Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung, Erfahrungsbericht 1969. Nürnberg 1970. S. 119.
  4. Bundesanstalt für Arbeit (Hg.): Ausländische Arbeitnehmer, Beschäftigung, Anwerbung, Vermittlung, Erfahrungsbericht 1972/73. Nürnberg 1974. S. 102.
  5. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (Hg.): Informationen für betriebliche Führungskräfte, diverse Nationen. o.J., S. 8.
  6. Ebd.
  7. Gespräche mit Zehra und Mehmet Kayain, 13.6.2009, Alpay G., 3.2.2010 und Achmet Ö, 3.9.2011. Vgl dazu Hunn, Nächstes Jahr, S. 104ff.
  8. Die Zeit, 12.2.1965. Vgl. dazu Meier-Braun, Ramadanfeier,
  9. Thielmann, Jörn: Muslime in Rheinland-Pfalz, 2011
  10. Die Zeit, 12.2.1965.
  11. Alpay G., 3.2.2010 und Achmet Ö, 3.9.2011.
  12. Stuttgarter Zeitung, 28.11.1971.
  13. Der Spiegel, Nr. 31, 30.7.1973.
  14. Vgl. dazu Meier-Braun, K.-H.: Deutschland, Einwanderungsland. Frankfurt/Main 2006, S. 42–49.
  15. Herbert, U.: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Bonn 2003, S. 252ff.
  16. Vgl. dazu Bade, K. J.: Ausländer, Aussiedler, Asyl, eine Bestandsaufnahme. München 1994, und Meier-Braun, K.-H.: Deutschland, Einwanderungsland. Frankfurt/Main 2006.
  17. Gespräch mit Alpay G., 3.2.2010.
  18. Ebd.