Karl-Heinz Meier-Braun – Eine positive Sichtweise wählen

Wie aus »Gastarbeitern« nach langer Zeit »Zuwanderer« bzw. »Einwanderer« wurden

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen seit am 20. Dezember 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien unterzeichnet wurde. Fast genauso lange hat es gedauert, bis sich Deutschland auf seine Rolle als Einwanderungsland eingestellt hat. Jahrzehnte der Ausländerpolitik, die sich in sieben Phasen einteilen lässt, liegen hinter uns.

Erste Phase: Ausländerpolitik als Arbeitsmarktpolitik

Italienische Gastarbeiter beim Deutschkurs im Centro Italiano
Ankommen in Deutschland über den Spracherwerb: Italienische Gastarbeiter beim Deutschkurs im Centro Italiano.

Deutschland ist keinesfalls blind in einen Einwanderungsprozess hineingeschlittert, wie  immer wieder behauptet wird. Nachdem die Archive jetzt für die Forschung geöffnet wurden, zeigt sich, dass die politisch Verantwortlichen in den Ministerien sich schon in 1960er Jahren durchaus bewusst waren, dass Einwanderung stattfindet und damit Integrationsprobleme verbunden sein werden. Allerdings wurden erst viel zu spät die Weichen in Richtung Integration gestellt.

Die Bundesrepublik nahm lange Zeit mehr Zuwanderer auf, als die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusammen. Nach offizieller Lesart der Politik blieb Deutschland aber fast ein halbes Jahrhundert lang noch kein Einwanderungsland, obwohl Artikel 73 des Grundgesetzes klar von »Einwanderung« als Aufgabe des Bundes spricht.

Die Ausländerpolitik war bis vor kurzem nicht bereit, vom nationalstaatlichen Denken abzurücken und die Realitäten eines neuen Einwanderungslandes Deutschland anzuerkennen. Ängste und Befürchtungen, die Legitimitätsbasis in der Wählerschaft zu verlieren, spielten dabei offenbar  eine wichtige Rolle. Man sprach von »Zuwanderung«, um das Tabu-Wort »Einwanderung« zu vermeiden, wobei sich dieser feine Unterschied in keine Sprache der Welt übersetzen lässt. 

Die erste Phase der Ausländerpolitik im Nachkriegsdeutschland, in der die Ausländerbeschäftigung als vorübergehende Erscheinung gesehen und davon ausgegangen wurde, dass die so genannten »Gastarbeiter« über kurz oder lang wieder heimkehren würden, dauerte immerhin von 1952 bis 1973. Ausländerpolitik war in diesen rund zwanzig Jahren in erster Linie deutsche Arbeitsmarktpolitik. Die Anwerbung erfolgte im Interesse der Wirtschaft, die einen wachsenden Bedarf an Arbeitskräften hatte. Schon damals wurde der wichtigste Eckpunkt der Ausländerpolitik definiert, der noch bis vor kurzem galt: die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland! Abgesehen vom Ausländerrecht und seinen Ausführungsbestimmungen existierte lange Zeit kein übergreifendes Konzept infrastruktureller, sozial- und bildungspolitischer Maßnahmen in der Ausländerpolitik. Das Ausländergesetz wurde als Fremden- und Ausländerpolizeirecht verstanden, mit einem vielfältigen Abwehrinstrumentarium einschließlich Abschiebung und Ausweisung. Die wichtigste Grundlage war und ist: Ausländerpolitik bedeutet in erster Linie Arbeitsmarktpolitik. Das heißt: die deutschen Arbeitsmarktinteressen, wie sie die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern definieren, stehen im Mittelpunkt.
 

Zweite Phase: »Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung«

Die zweite Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1973 bis 1979 und stand unter dem Motto »Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung.« Die Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung setzte Anfang der 1970er-Jahre vor allem deshalb ein, weil immer mehr »Gastarbeiter« ihre Familien nachholten und erkennbar wurde, dass die Ausländerbeschäftigung eben doch kein vorübergehendes Phänomen sein konnte. Die Diskussion über Kosten und Nutzen der Arbeitsmigranten sowie die Furcht vor sozialen Konflikten schlug sich im Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte nieder, der am 23. November 1973 verhängt wurde. Gleichzeitig wurde damals eine erste Eingliederungspolitik für die ausländischen Familien angekündigt, die langfristig in der Bundesrepublik bleiben wollten. Der Anwerbestopp forderte allerdings den Familiennachzug geradezu heraus und führte dazu, dass diejenigen, die schon da waren, auf Dauer blieben.

Die »Gastarbeiter«, die vorübergehend in ihr Herkunftsland gegangen waren, wussten jetzt, dass es keine Rückkehrmöglichkeit nach Deutschland mehr gab. Insgesamt stieg die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung von rund 686.000 im Jahre 1960 auf 4,4 Millionen im Jahre 1980 an. Innerhalb von zwanzig Jahren hatte sich damit die Ausländerzahl im Nachkriegsdeutschland fast versiebenfacht.
 

Dritte Phase: Integration im Mittelpunkt

In einer dritten und kurzen Phase von 1979 bis 1980 standen Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländerpolitik. 1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn, ein Memorandum vor. Kühn kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden sei. Er forderte die Anerkennung der »faktischen Einwanderung« und beispielsweise ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon auf den Geburtenrückgang und die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine »Gastarbeiter« mehr, sondern Einwanderer.

1980 blieb die damalige SPD/FDP-Bundesregierung mit ihren ausländerpolitischen Beschlüssen allerdings weit hinter den Forderungen ihres Ausländerbeauftragten zurück und lehnte seinen Vorschlag für ein Ausländerwahlrecht oder Einbürgerungserleichterungen für ausländische Jugendliche ab.
 

Vierte Phase: Wende in der Ausländerpolitik

Die vierte Phase der Ausländerpolitik dauerte von 1981 bis 1990 und lässt sich unter das Motto »Wende in der Ausländerpolitik« stellen. Aus einem kurzen Wettlauf um Integrationskonzepte wurde 1981 plötzlich ein Rennen um eine Begrenzungspolitik. Zahllose, zum Teil äußerst dramatisierende Warnungen vor den »Ausländerproblemen« und Ankündigungen, diese durch restriktive Maßnahmen zu lösen, standen im Mittelpunkt der 1980er-Jahre. Die Realitäten eines Einwanderungslandes wurden in weiten Teilen von Gesellschaft und Politik weiterhin nicht gesehen. Zu einem vorausschauenden und umfassenden Zuwanderungs- und Integrationskonzept kam es nicht.
 

Fünfte Phase: Asylpolitik im Brennpunkt

Eine fünfte Phase in der Ausländerpolitik begann 1990 und dauerte bis 1998, dem Jahr, in dem nach dem Regierungswechsel zu Rot-Grün eine erneute Wende in der Ausländerpolitik erfolgte. Noch zu Beginn dieser Phase trat am 1. Januar 1991 ein neues Ausländerrecht in Kraft, für das sich der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble eingesetzt hatte. Das Gesetz verbesserte zwar das Aufenthaltsrecht für lange in Deutschland lebende Ausländer, brachte aber keine entscheidende Verbesserung bei der Einbürgerung. In den 1990er-Jahren stand aber die Asylpolitik im Vordergrund, die »Gastarbeiter« gerieten fast in Vergessenheit. Als neue Einwanderungsgruppe kamen nach dem Ende des Kalten Krieges die Aussiedler hinzu.

Sechste Phase: Das Ringen um ein Zuwanderungsgesetz

Italienisches Paar in der eigenen Wohnung.
Besitzerstolz in Bescheidenheit: Italienisches Paar in der eigenen Wohnung.

Die sechste Phase der Ausländerpolitik, die 1998 begann und bis Ende 2004 andauerte, könnte man unter das Motto »Das Ringen um ein Zuwanderungsgesetz« stellen. Zunächst einmal sollte sich Grundsätzliches mit einem klaren Bekenntnis zum Einwanderungsland ändern. So jedenfalls kündigte es die 1998 neu gewählte Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Koalitionsvertrag an. Die schließlich verabschiedeten erleichterten Einbürgerungsbestimmungen vor allem für Ausländerkinder, die am 1. Januar 2000 in Kraft traten, stellten einen gewissen Wendepunkt in der Ausländerpolitik dar. Zum ersten Mal rückte eine Bundesregierung damit vom Abstammungsprinzip (Ius sanguinis – »Recht des Blutes«) ab, wonach die Staatsangehörigkeit von den Eltern abgeleitet wurde. Kern der Reform ist die Einbürgerung durch das Geburtsrecht (Ius soli – »Recht des Bodens, Landes«), wonach die Staatsangehörigkeit vom Geburtsort bzw. -land abgeleitet wird. Das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahr 1913 wurde damit zu Grabe getragen und ein historisch bedeutsamer Kurswechsel in der Ausländerpolitik vorgenommen. In der 1999 veröffentlichten Broschüre der Bundesregierung zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht wurde denn auch zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – eigentlich in der deutschen Geschichte überhaupt – regierungsamtlich festgestellt: »Deutschland ist schon längst zum Einwanderungsland geworden.«

In den Jahren 2001 bis 2004 entwickelte sich eine kontroverse und bisweilen dramatisch zu nennende Debatte um das Zuwanderungsgesetz. Mit großer Mehrheit verabschiedete der Bundestag schließlich nach langem Hin und Her am 1. Juli 2004 den Zuwanderungskompromiss. Nur zwei Abgeordnete der Unionsfraktion und die beiden Vertreter der PDS stimmten gegen das Gesetz. 18 Abgeordnete der Grünen gaben mit ihrem Ja eine Erklärung zu Protokoll. Nun ist Deutschland also offiziell Einwanderungsland. Das in der Öffentlichkeit als Zuwanderungsgesetz bezeichnete Reformwerk stand von Anfang an unter der Überschrift »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz)«. Zur Klarstellung wurde im Vermittlungsverfahren auf Wunsch der Unionsparteien im § 1 (Zweck des Gesetzes) die Formulierung aufgenommen, dass das Gesetz Zuwanderung »unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit« ermöglicht und gestaltet. Die ursprüngliche Forderung der Union – »unter Berücksichtigung der nationalen Interessen und der nationalen Identität« – wurde allerdings nicht im Gesetz verankert.

Siebte Phase: Integration wieder im Mittelpunkt

Zugschild »Holland Italien Express«, von Amsterdam bis nach Rom
Fahrtroute aus dem Süden Europas: Altes Zugschild.

Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD erklärte 2005 das Thema Integration zu einer Schwerpunktaufgabe. Der Posten einer Staatsministerin für Integration und Migration wurde im Kanzleramt geschaffen und mit Maria Böhmer besetzt. Ab 2006 veranstalte die Bundesregierung so genannte »Integrationsgipfel« und die »Deutsche Islam-Konferenz«. Die CDU/CSU/SPD-Bundesregierung steuerte mit der siebten Phase der Migrationspolitik von 2005 bis 2009 eindeutig einen integrationspolitischen Kurs. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble stellte wörtlich fest: »Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft«. Bundespräsident Horst Köhler kritisierte, dass Deutschland die Integration „verschlafen“ habe. Die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank geschoben.«

Auch wenn vieles im Bereich von Absichtserklärungen blieb und im Hinblick auf Medienereignisse gesagt wurde, so bekam Deutschland seit dem Jahr 2000 einen kräftigen Schub in Richtung Integration. Ein Allparteienkonsens in der Migrationspolitik blieb bestehen. Aus den Wahlkämpfen – vor allem aus dem Bundestagswahlkampf 2009 – wurde das Thema größtenteils herausgehalten. In diesem Sinne war die Große Koalition ein »Segen« für die Integrationspolitik. Eine positive Symbolpolitik, an der es lange Zeit mangelte, kennzeichnet die Jahre 2005 bis 2009. Auch die neue Bundesregierung von CDU, CSU und FDP kündigte 2009 in ihrem Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode bis 2013 eine konsequente Fortsetzung der Integrationspolitik an. 

Deutschland braucht in Zukunft Einwanderer, denn die Bevölkerungsentwicklung sieht so aus: »Weniger, älter und bunter.« Sicher ist, dass durch Zuwanderung die Entwicklung zu einer immer älter werdenden und schrumpfenden Bevölkerung gar nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Man müsste praktisch nur noch Kinder einwandern lassen, was natürlich absurd ist. Zuwanderung ist also kein Allheilmittel gegen das »Altersheim Deutschland.« Einwanderung, gezielt ausgesucht, kann diesen Trend jedoch etwas abfedern und sollte in diesem Sinne eigentlich als Glücksfall begriffen werden. Insbesondere wenn man bedenkt, dass schon bald nicht mehr vier Erwerbstätige einen Rentner sozusagen ernähren müssen, sondern nur ein Berufstätiger auf einen Rentner kommt. Die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die Sozialsysteme sind gravierend. Je nach Zuwanderungsvariante wird Rheinland-Pfalz nach Angaben des Statistischen Landesamtes im Jahre 2050 bis zu einer Million Einwohner weniger haben. Ein Blick auf das Thema »Bevölkerung und Pflegebedürftige« macht das Problem beispielhaft an Rheinland-Pfalz deutlich: Bis 2015 geht die Bevölkerung um zwei Prozent zurück und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt gleichzeitig um 25 Prozent. Bis 2050 sinkt die Gesamtbevölkerung um 18 Prozent und die Zahl der Pflegebedürftigen steigt um – sage und schreibe – 76 Prozent! 

Die demographische Entwicklung ist eine der größten Herausforderungen für alle Landes- und Bundesregierungen. Sie müssen sich dem Thema »Migration und Bevölkerungsentwicklung« stellen, wenn sie den Wirtschaftstandort Deutschland sichern und international wettbewerbsfähig bleiben wollen.


Porträt Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun

Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun

ist Leiter der Fachredaktion SWR International und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks.

Seine letzte Veröffentlichung mit dem Titel »Kleine Geschichte der Ein- und Auswanderung in Baden-Württemberg« ist 2009 im DRW Verlag erschienen.

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