Sein Schicksal in die eigenen Hände genommen
Staatliche Anwerbeabkommen stehen in den seltensten Fällen am Beginn von Migrationsbewegungen. Meistens sind sie nur eine Reaktion darauf, dass Menschen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Diese Tatsache findet sich auch im Falle der marokkanischen Zuwanderungsgeschichte nach Deutschland. Mehrere Tausend Marokkaner befanden sich bereits vor der offiziellen Unterzeichnung der deutsch-marokkanischen Vereinbarung über die vorübergehende Beschäftigung von Arbeitskräften aus Marokko in der Bundesrepublik. Sie wollten sich jenseits des traditionellen Ziellandes Frankreich in Europa eine Existenz aufbauen.
Die behördlichen Hürden und die langen Wartezeiten waren dabei jedoch so enorm, dass viele Marokkaner ohne die nötigen Papiere illegal nach Deutschland einreisten. Im Wesentlichen waren die schlechten wirtschaftlichen Lebensbedingen der Hauptgrund für eine Ausreise. Teilweise fanden sich aber auch deutsche Firmen, die Menschen aus Marokko dazu aufforderten. Die deutsche Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte und die Menschen waren willens zu kommen. (1)
Das deutsch-marokkanische Anwerbeabkommen
Industriebereiche, die keine attraktiven Arbeitsplätze vorzuweisen hatten, waren in besonderem Maße von ausländischen Arbeitern abhängig. Vor allem deutsche Arbeitgeber aus dem Bergbau hofften, in den marokkanischen Bergbaugebieten der Rifregion ihren Personalbedarf zu decken. Unterstützung fand dieses Anliegen auf diplomatischer Ebene: Marokko sollte enger an den Westen gebunden werden. (2)
Vor diesem Hintergrund wurde am 21. Mai 1963 das deutsch-marokkanische Anwerbeabkommen abgeschlossen.
Das Abkommen trug derart viele Einschränkungen in sich, dass es sein eigentliches Ziel verfehlte, die illegale Einreise von Marokkanern zu kanalisieren. Am Ende waren alle Seiten unzufrieden. Für die Vertreter der deutschen Industrie und die marokkanischen Verantwortlichen kamen nicht genügend Arbeitskräfte nach Deutschland, für die deutschen Behörden zu viel, während weiterhin marokkanische Migranten illegal einreisten.
Nach dem Anwerbestopp
Als im November 1973 die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern offiziell gestoppt wurde, lebten fast 22.400 Marokkaner in Deutschland. Ein Merkmal dieser Bevölkerungsgruppe war ihre herkunftsbezogene Geschlossenheit: die meisten stammten aus den dicht besiedelten Provinzen des Rifgebirges. Zurückzuführen ist dies auf eine Kombination mehrerer Ursachen: In dieser Region waren viele Menschen mit den Techniken des Bergbaus vertraut. Deutsche Zechen erhofften sich, hier viele qualifizierte Mitarbeiter gewinnen zu können. Gleichzeitig waren diese Provinzen weder durch ihre koloniale Tradition noch durch die französischen Sprachkenntnisse auf Frankreich fixiert. Für den marokkanischen Staat war eine Konzentration aller Anwerbeaktivitäten auf dieses Gebiet willkommen. Man erhoffte sich, die angespannte Situation in den wirtschaftlich schwachen und politisch instabilen Provinzen durch die Abwanderung von jungen Menschen zu entschärfen. Für die Auswanderer selbst war die Arbeitsaufnahme eine Möglichkeit, den Umständen vor Ort zu entfliehen. Viele waren daran interessiert, nicht nur ihre persönliche Situation, sondern auch die Ihrer Familien und Freunde zu verbessern. Häufig wurden deshalb Arbeitgeber von marokkanischen Arbeitsmigranten ersucht, Angehörige und Bekannte anzuwerben, was die Anzahl der Arbeitskräfte aus der Rifregion zusätzlich erhöhte. (3)
Lange Zeit war die marokkanische Zuwanderungsgeschichte eine Wanderungsbewegung von Männern. Nur sehr selten wurden auch Frauen angeworben. Dementsprechend war der Anteil männlicher Erwerbspersonen unter den Marokkanern überproportional hoch. Diese Relation änderte sich erst, als im Zuge der restriktiven Zuwanderungspolitik Familienzusammenführungen und die Heirat eines marokkanischen Partners die einzige Möglichkeit darstellten, legal nach Deutschland einzureisen. Mit der Zuwanderung von Familienangehörigen stieg die Zahl der in Deutschland lebenden Marokkaner. Im Jahr 2007 befanden sich rund 127.000 Menschen mit marokkanischem Hintergrund in der Bundesrepublik. Sie stellen damit die größte Einwanderergruppe aus Afrika. (4)
Die marokkanische Gemeinde in Deutschland
Die hier lebenden Marokkaner sind unterschiedlich auf die Bundesländer verteilt. Beim Blick auf die Zahlenwerte werden geographische Siedlungsschwerpunkte ersichtlich. Die meisten marokkanischen Migranten leben in Hessen und Nordrhein-Westfalen, was vor allem daraufhin zurückzuführen ist, dass sich die Zuwanderung in den 1960er und 1970er Jahren auf gewisse Industrien, wie den Bergbau, konzentrierte. Rheinland-Pfalz nimmt mit mehr als 2.600 Marokkanern einen Platz im Mittelfeld ein und liegt mit dieser Bevölkerungszahl sogar noch vor den großen Flächenländern Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen.
Inzwischen hat sich jedoch die Sozialstruktur der marokkanischen Community in Deutschland verändert. Verstärkt seit den 1990er Jahren wanderten Migranten aus anderen Regionen und Bildungsschichten nach Deutschland ein. Dieser Trend wurde vor allem durch die Zuwanderung von Studenten verstärkt, so dass marokkanische Studenten an den Universitäten mittlerweile ebenfalls die größte Gruppe unter den afrikanischer Studenten bilden. (5)
Verteilung der marokkanischen Staatsbürger auf die Bundesländer
Deutsche Bundesländer | Anzahl marokkanischer Staatsbürger |
---|---|
Baden-Württemberg | 2.613 |
Bayern | 2.555 |
Berlin | 1.280 |
Brandenburg | 124 |
Bremen | 548 |
Hamburg | 727 |
Hessen | 20.014 |
Mecklenburg-Vorpommern | 219 |
Niedersachsen | 1.397 |
Nordrhein-Westfalen | 37.544 |
Hamburg | 727 |
Rheinland-Pfalz | 2.636 |
Saarland | 483 |
Sachsen | 449 |
Sachsen-Anhalt | 518 |
Schleswig-Holstein | 389 |
Thüringen | 143 |
Insgesamt | 71.63 |
Stand: 31.12.2005 (6)
Quellenangaben
- Vgl. dazu Samy Chachira: Die Berber kommen, in: DOMiT u.a. (Hg.): Projekt Migration, Köln 2005, S. 801-803 und Christoph Rass: Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2011.
- Christoph Rass: Institutionalisierungsprozesse, S. 424.
- Vgl. dazu Samy Chachira: Die Berber kommen, S. 801f.
- Vgl. dazu Metzger, Schüttler, Hunger: Marokkanischen Migrantenorganisationen, S. 220ff.
- Ebenda.
- Anna Kiepke: Marokkanische Migranten in Deutschland im Spannungsfeld von Integration und Tradition, Hamburg 2010, S. 7-8.