Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte

Um die Defizite auf dem deutschen Arbeitsmarkt auszugleichen, orientierte man sich an den Bedürfnissen der nahe gelegenen Mittelmeerstaaten. Italien, Spanien oder Griechenland waren stellvertretend für Länder mit hoher Arbeitslosigkeit, unsicheren, politischen Verhältnissen und Wirtschaftskrisen aber auch einer Vielzahl an ungelernten Arbeitskräften.

Reportage »Für 60 Mark einen Italiener«
Die Anreise eines italienischen Gastarbeiters kostete deutsche Unternehmen 60 Mark.

Am 20. Dezember 1955 unterschrieben Bundesarbeitsminister Storch, Botschafter von Brentano und der italienische Außenminister Martino in Rom das bilaterale Anwerbeabkommen. Damit sollte die Zuwanderung italienischer Migranten nach Deutschland über Anwerbebüros der Bundesanstalt für Arbeit in Italien organisiert werden. Es wurde eine bilaterale Kommission gebildet und Anwerbebüros, zunächst eines in Mailand/Verona und 1960 ein zweites in Neapel, eröffnet. Weil sich diese Verfahrensweise als zu umständlich erwies, erfolgte die tatsächliche Migration zunehmend auf dem direkten Weg über die Anreise nach Deutschland und eine dortige Vermittlung durch die Arbeitsämter. Dieser Weg setzte sich auch mit der Etablierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch.

Zur Wahrung gleichberechtigter Arbeitsbedingungen forderten die Gewerkschaften bereits vor der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens gleiche Bedingungen in arbeits-, tarif- und sozialrechtlicher Hinsicht, um eine Gleichstellung mit deutschen Arbeitskräften zu erwirken.

In den ersten Anwerbejahren hieß man die Arbeiter herzlich willkommen, wie aus einem Faltblatt der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung aus dem Jahr 1963 hervorgeht: »Sie haben sich entschlossen, in der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Fleißige Leute sind in der Bundesrepublik Deutschland gut angesehen. Die Bundesrepublik Deutschland entbietet Ihnen, die Sie fleißige Leute sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf unsere Gastfreundschaft verlassen können.«

Gastarbeiterinnen in der Schokoladenfabrik Stollwerk (1962)
Frauen unterstützten die deutsche Wirtschaft in der Bekleidungs- oder Nahrungsmittelindustrie (Stollwerk Schokoladenfabrik 1962).

Gut zwei Millionen Italiener kamen nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit zwischen 1956 und 1972 als Arbeiter in die Bundesrepublik Deutschland. Die Mehrzahl jedoch kehrte in ihre Heimat zurück.

Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte konzentrierte sich zunächst auf alleinstehende Männer zwischen 20 und 40 Jahren. Die meist ungelernten Arbeitskräfte, die sich im Anwerbeland intensiver medizinischer Untersuchungen bzgl. ihres Gesundheitszustands unterziehen mussten, prägten ab 1955 das Arbeiterbild in der Landwirtschaft, in Fabriken oder im Bergbau. Erst später suchten auch Frauen, die ebenfalls ohne Familie nach Deutschland kamen, einen Weg aus der heimatlichen Armut in stabile Arbeitsbedingungen.

Teekübelträger auf der Baustelle
Straßenbau war einer der Haupteinsatzorte für Gastarbeiter

Der kontinuierlich steigende Bedarf an Arbeitskräften aus dem sonnigen Süden setzte sich im März 1960 mit der Anwerbung spanischer und griechischer Arbeiter fort. Gastarbeiter aus der Türkei folgten ab 1961. Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) ergänzten den multikulturellen Zustrom nach Deutschland.

Von 1955 bis 1961 nahm die ausländische Bevölkerung dadurch jedoch zunächst nur um etwa 200.000 zu, geht aus einer Pressemeldung des Bundesministeriums des Inneren  hervor. Das Jahr der größten Zuwanderung war 1965 mit ca. 270.000 Menschen.

Ab dem Jahr 1961 kam es bei anhaltender Konjunktur und gleichzeitigem Ende des Arbeitskräftezustroms aus der DDR, der sich aus dem Bau der »Mauer« begründete, zunehmend zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Entwicklung wurde durch gleichzeitige Verkürzung der Arbeitszeiten sowie durch ein Schrumpfen der deutschen Erwerbsbevölkerung noch verstärkt. So sank zwischen 1960 und 1972 die Zahl der einheimischen Erwerbstätigen um 2,3 Millionen.

Entstammten 1960 noch 1,3 Prozent aller Erwerbstätigen dem Ausland, verzeichnete man 1973 bereits 11,9 Prozent, d.h. die ausländische Bevölkerung wuchs von 79 697 (1955) auf 2.595.000 (1973). Insgesamt stieg die Erwerbstätigenzahl in diesem Zeitraum von 26,3 Millionen auf 27,7 Millionen. Die einheimische Erwerbsquote hingegen sank von 1961 bis 1970 von 47,6 auf 43,7 Prozent.

Dokumente von Giovanni Soi (1960):

Arbeitsvertrag, Legitimationskarte und Rückseite der Aufenthaltserlaubnis-Karte

Arbeitsvertrag von Giovanni Soi
Arbeitsvertrag
Legitimationskarte von Giovanni Soi (1960)
Vorderseite einer Legitimationskarte
Rückseite der Aufenthaltserlaubnis-Karte
Rückseite der Aufenthaltserlaubnis-Karte

Bis in die späten 1960er Jahre konzentrierte sich die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer auf die Länder Italien, Spanien und Griechenland. In den folgenden Jahren dominierten zunehmend Migrantinnen und Migranten aus dem damaligen Jugoslawien, vor allem aber aus der Türkei. 1968 nahmen türkische Staatsangehörige innerhalb der ausländischen Bevölkerung einen Anteil von 10,7 Prozent im Vergleich zu Jugoslawen mit 8,8 Prozent, ein. Fünf Jahre später verzeichnete man bereits 23 Prozent der türkischen Einwanderer, Jugoslawien stellte einen Prozentsatz von 17,7 Prozent dar. Während der Zeit des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961 bis 1972 zogen rund 750.000 Türkinnen und Türken in die Bundesrepublik.

Die Zuwanderung von Arbeitskräften konzentrierte sich vornehmlich auf die industriell ausgerichteten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen.

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