Im Spannungsfeld zwischen Gestern und Heute

Migranten, ganz gleich wann und woher sie einwandern, stehen immer im Spannungsfeld zwischen Gestern und Heute, zwischen dem was war und dem was ist. Vor allem für die Einwanderungsgeneration ist es schwierig, den täglichen Spagat zwischen den Werten des Heimatlandes und den Werten und Normen der deutschen Gesellschaft zu absolvieren.

Spätestens wenn ein Einwanderer mehrere Jahrzehnte im Ankunftsland verbracht hat, wird er sich fragen, wo er sich selbst verortet. Dann wird ihm klar sein, dass er seit seiner Ankunft Teil eines unbewussten oder schmerzlich bewussten oder sogar beabsichtigten Entwicklungsprozesses ist, der sich etwa an der Abnahme von kulturellen und familiären Bindungen zum Herkunftsland oder der mühevollen eigenen Identitätsfindung zeigen lässt.

Wie alle anderen Zuwandergruppen müssen sich auch Marokkanische Migranten dieser Herausforderung stellen. Allerdings wird ihr Spannungsfeld durch zusätzliche Faktoren verstärkt. Diese bewegen sich entlang von religiösen, sozialen, kulturellen oder politischen Linien und fallen bei jedem Menschen unterschiedlich ins Gewicht.

Religiöse, soziale, kulturelle oder politische Aspekte

Nicht zuletzt die kritische Betrachtung des Islams in Deutschland macht es Menschen mit marokkanischem Hintergrund schwerer, sich aufgenommen zu fühlen, da die marokkanische Lebensweise islamisch geprägt ist. Das religiöse Element, das bei anderen Einwandergruppen eine Verbindung zur deutschen Gesellschaft ist, wird hier eher als etwas Trennendes empfunden. Viele sehen sich dem ständigen Druck ausgesetzt, ihre Religion verteidigen zu müssen.

Im sozialen Bereich wirkt sich die heterogene Gesellschaftsstruktur der marokkanischen Gemeinden aus. Während die marokkanischen Einwanderer der ersten Stunde aus ländlichen Gebieten stammten und nur über eine geringe schulische und berufliche Ausbildung verfügten, ist der Bildungsstand der späteren Zuwanderer, insbesondere durch die steigenden Studentenzahlen seit den 1990er Jahren, ungleich höher.

Kulturell ist die marokkanische Community in Deutschland unterscheidbar zwischen den Gruppen der Berber und Araber. Diese Unterscheidung ist nicht als etwas Gegensätzliches zu verstehen. Viele islamisch-marokkanischen Werte werden von beiden Stämmen getragen. Unterschiede finden sich eher bei bestimmten Riten und vor allem darin, dass viele verschiedene Muttersprachen beherrschen. 

Das schwierige Verhältnis zum marokkanischen Staat

Porträt von S.M. Mohammed VI.
Seit seiner Inthronisation am 30. Juli 1999 leitet S.M. Mohammed VI. die Geschicke seines Landes.

Allen Gruppen gemein ist das eher schwierige Verhältnis der Marokkaner zu ihrem Herkunftsland. Lange Zeit trat Marokko als Überwachungsstaat auf.

»Amicales«, botschaftsnahe »Freundschaftsvereine«, hatten die Aufgabe, die im Ausland lebenden Marokkaner zu bespitzeln und politische Aktivitäten zu verhindern. Gleichzeitig sollten sie davon abgehalten werden, sich in den Aufnahmeländern zu integrieren. Zu diesem Zweck schickte der Staat marokkanische Lehrer und Imame nach Deutschland, um einer Entfremdung gegenüber Marokko entgegen zu wirken, auch um auf diese Weise zu verhindern, dass die Migranten nicht als Devisenbringer verloren gingen. Die jährlichen Überweisungen in Milliardenhöhe sind seit den 1960er eine wichtige Einnahmequelle für das afrikanische Land.

Inzwischen hat sich das Verhältnis zum marokkanischen Staat einigermaßen normalisiert. Seit der Inthronisation des neuen Königs Mohammed VI. wurden Einrichtungen gegründet, die die Beziehungen der Migranten zum Heimatland fördern und stärken, aber auch harmonisieren sollen. Trotzdem tun sich auch die aktuell Regierenden schwer, wenn marokkanische Staatsangehörige eine ausländische Staatsbürgerschaft annehmen möchten. Der marokkanische Pass gilt weiterhin als unveräußerlich.

Marokko, zwischen klassischem Migrationsland und attraktivem Migrationsziel

Der marokkanische Staat muss sich jedoch gegenwärtig nicht nur mit emigrationspolitischen Problemen auseinandersetzen. Er ist, wie auch eine Reihe anderer, klassischer Herkunftsländer für Arbeitsmigration damit konfrontiert, zunehmend selbst als Migrationsziel attraktiv zu werden. Die stabilen politischen Verhältnisse und die vergleichsweise gute wirtschaftliche Situation in Marokko haben dazu geführt, dass eine wachsende Zahl von Menschen aus den Subsahara-Staaten dort leben möchten. Ihre Größe wird weiterhin zunehmen, je mehr die Europäische Union die Einreisebestimmung aus afrikanischen Ländern verschärft.

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