»50 Jahre danach« – Eine Bestandsaufnahme

Döner-Verkäufer am Döner-Spieß
Der Döner – Völkerverständigung, die durch den Magen geht.

Eingebettet in die beschaulich aussehende Häuserzeile einer rheinhessischen Kleinstadt liegt der Dönerladen von Hassan. Seit er vor gut 20 Jahren sein kleines Geschäft eröffnete, ist vieles anders geworden. Die Straße hat sich herausgeputzt und seine Kundschaft, die einst aus Landsleuten bestand, ist heute überwiegend deutsch [1].  

Die Dönerbuden gehören zum sichtbarsten Zeichen der türkischen Zuwanderung und gleichzeitig zu einer florierenden Wachstumssparte. Mittlerweile gibt es bundesweit 16.000 Läden. Zusammen erwirtschaftet die Branche mit 60.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von 3,5 Mrd. Euro[2].

Der Döner, wie wir ihn kennen, ist eine deutsch-türkische Koproduktion, die in Berlin ihren Ursprung hatte. Kadir Nurmann, ein türkischer »Gastarbeiter«, hat ihn 1972 in Berlin erfunden [3].  

Das populäre Schnellgericht, das rasch seinen Siegeszug antrat, leistet den größten Beitrag zur Integration der hier lebenden Türken. Kein Regierungsprogramm bringt mehr Deutsche mit Türkinnen und Türken in Kontakt, als das ursprünglich traditionelle türkische Hochzeitsessen. Längst hat das Fleisch im Fladenbrot der deutschen Bratwurst und dem amerikanischen Hot Dog den Rang abgelaufen. Völkerverständigung, die sprichwörtlich durch den Magen geht.

Türken in Deutschland – mitten drin, aber schon dabei?

Der Döner hat sich in Deutschland etabliert und als Mahlzeit in den deutschen Speiseplan integriert. Dem scheinen die Besitzerinnen und Besitzer der Imbissbuden jedoch »hinterherzuhinken«. In der stattfindenden Integrationsdebatte gelten die türkischen Zuwanderinnen und Zuwanderer als größte Nation innerhalb dieser Religionsgruppe als Hemmnis.

Der öffentliche Diskurs über die Türkinnen und Türken ist dabei von einer extremen Vereinfachung geprägt. Es fehlt die Erkenntnis, dass schon längst, ein tiefgreifender Wandel unter der türkischen Bevölkerung eingesetzt hat: die erste »Gastarbeitergeneration«, die aus der Türkei nach Deutschland migrierte, ist weitgehend in Rente gegangen. Nicht nur deshalb können viele Türkinnen und Türken auf einen langen Aufenthalt in Deutschland zurückblicken: 86,9 % leben seit mehr als 10 Jahren hier, 55 Prozent sogar mehr als 20 Jahre [4]. Ihr Leben ist zunehmend auf ein endgültiges Bleiben ausgerichtet.

Belebte Straßenecke mit jungen Türkinnen und Türken
Türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger in Berlin.

Inzwischen ist der überwiegende Teil der hier lebenden 2,5 Millionen türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland geboren oder aufgewachsen [5], 528.000 sind eingebürgert [6]. Sie haben ihre frühere türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben, um auch durch ihren Pass zu demonstrieren, dass Deutschland ihre Heimat ist (SWR-Medienforum).

Schlechter sieht es allerdings auf dem Arbeitsmarkt aus. Ausländerinnen und Ausländer sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Vor allem Menschen mit türkischem Hintergrund müssen darunter leiden. Die Gründe dafür liegen vielfach in der Herkunft ihre Eltern und Großeltern. Das niedrige Bildungsniveau, das viele damals mitbrachten, hatte auch Folgen für die kommenden Generationen. Ihre Startchancen sind dadurch geschmälert [7]. Mehr dazu hier.

Unbekannt dabei: Die Situation hat sich dennoch gebessert. Sie ist stabiler geworden. Oft auch, weil viele gegen ihre Arbeitslosigkeit ankämpfen und Unternehmen neu gründen, die über die Leitung eines Gemüsemarkts oder Dönerstands weit hinausgehen [8]. So bringen türkische Migrantinnen und Migranten den »Gründungsmotor« auf Touren. In Deutschland gibt es inzwischen 70.000 türkische Unternehmen mit 350.000 Angestellten [9].

Ismet Koyu, Nilgün Michel und Ramazan Cetinel sind stellvertretend für viele erfolgreiche, türkische Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland. Ihre Unternehmen gründeten sie bereits als Studenten:

Portrait von Ismet Koyun
Ismet Koyun
Portrait Nilgün Michel
Nilgün Michel
Ramazan Cetinel bei der Arbeit
Ramazan Cetinel

Unbestreitbar ist aber auch, dass es im Bildungsbereich unter den Türkinnen und Türken noch spürbare Mängel gibt. Zu wenige türkische Kinder und Jugendliche  auf dem Gymnasium, zu viele auf den Hauptschulen lautet eine einfache Formel. Studien zeigen, dass 41 Prozent der türkischen Jugendlichen eines Jahrgangs in Deutschland die Schule nur mit einem Hauptschulabschluss verlassen [10].

Was bleibt ist das spürbare Defizit auf dem Bildungssektor und die damit verbundenen, schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Eines sollte man jedoch nicht außer Acht lassen: über die Jahre hinweg haben sich die Schulabschlüsse verbessert. Von der ersten Generation hatten nur drei Prozent einen höheren Bildungsabschluss, nun sind es 22,4 Prozent [11], die vielfach eine beachtliche Karriere vorzuweisen haben [12]. Nicht zuletzt bei den Mädchen lassen sich spürbare Veränderungen erkennen [13].
 

Thilo Sarrazin und seine Sicht der Dinge

Thilo Sarrazin, ehemals Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, nahm die beschriebene Faktenlage auf, um aus seiner Sicht die Dinge darzustellen. In seinem Buch »Deutschland schafft sich ab« [14] zeichnete er ein Jahr vor dem Anwerbejubiläum das Bild einer sich abschottenden, integrationsunwilligen ausländischen Unterschicht. Damit waren hauptsächlich die in Deutschland lebenden Muslime gemeint, von denen zwei Drittel türkischen Hintergrund haben.
 
Sarrazins Thesen entpuppten sich als überzogen und stellenweise haltlos. Eine Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) gibt dies wider [15].
 
Gut dabei war: Sein Buch bewirkte eine starke politische und öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema. In der anschließenden Integrationsdebatte lief aber vieles aus dem Ruder. Es wurde hysterisch polemisiert, diskutiert und mit markigen Thesen argumentiert.
 

Lebenswelten der zweiten und dritten Generation

Für sehr viele türkischstämmige Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation hatte die Sarrazin-Debatte eine ganz andere Wirkung: Das Gefühl nicht dazuzugehören, nicht ein Teil des Ganzen zu sein, war für viele eine Enttäuschung. Im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern reagierten sie anders: Sie wollten nicht stillhalten, sondern sich zu Wort melden:

»Mir ging die Haltung meines Vaters auf den Geist. Immer ruhig sein, nie auffallen, immer ‚Danke‘ sagen, für jede Selbstverständlichkeit. Durch Sarrazin konnte ich nicht mehr. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich musste mich einmischen.« [16]

Diese Emanzipation zeigt sich auch an anderer Stelle. Die deutsche Gesellschaft muss sich aber darauf einstellen, dass viele hoch qualifizierte Migrantinnen und Migranten die Situation zum Anlass nehmen, den Sprung zurück in die Heimat ihrer Eltern und Großeltern zu wagen. Der »Boom am Bosporus« [17], der die Türkei auf den 17. Platz der weltweit größten Industrienationen führte, wird für sie nicht zuletzt durch eine fehlende »Willkommenskultur« in Deutschland zunehmend attraktiv.

Junger Türke mit jungen Frauen im Arm
Junge Türken in Worms.

Einige Stellen schlagen bereits Alarm. Deutschland verliert wichtige Facharbeiterinnen und Facharbeiter [18]. Seit 2006 wandern mehr und mehr Türkinnen und Türken in die alte Heimat ab. Diesen Strom in Richtung Süden begleiten auch weniger gut ausgebildete Frauen und Männer, für die nicht nur wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend sind. Im Film »Wir sitzen im Süden« beschreibt die Filmemacherin Martina Priessner, wie in Deutschland geborene und aufgewachsene Türkinnen und Türken in Istanbul und Umgebung leben. Der Alltag in der vermeintlichen Heimat wird ihnen nicht leicht gemacht, die Hoffnung oftmals enttäuscht. Hier sind sie die »Deutschländer«, die, die nicht dazugehören. Sie fühlen sich mit vielen Ritualen und Verhaltensweisen immer noch an die schwäbische, fränkische oder pfälzische Heimat gebunden [19].

Ihre Schicksale verweisen darauf, dass eine Kultur viele unbewusste Aspekte beinhaltet – von der Musik bis zur Sprache, vom Essen bis zur Kleidung. Diese trägt man ein Leben lang in sich. Für die Migrantenkultur in Deutschland bedeutet dies, eine Fülle unterschiedlichster Lebensentwürfe, die sich nicht mehr nur mit der Frage nach der Nationalität beantworten lassen. Sie besteht sowohl aus deutschen und türkischen Elementen. In ihr wird die Verbundenheit weniger in einer Identifikation mit einem Land ausgedrückt. Vielmehr identifizieren sich die Migrantinnen und Migranten eher mit einem Bezirk oder einer Stadt [20].  

Für die meisten ehemaligen »Gastarbeiter« stellen sich solche Fragen nicht mehr. Sie sind zu sehr in ihrem traditionellen Lebensumfeld verwurzelt. Wenngleich es ihr Wunsch war, eines Tages für immer wieder in die Türkei zurückzukehren, so liegt ihr Lebensmittelpunkt während eines  großen Teils des Jahres in  Deutschland. Hier leben die Kinder, Enkelinnen  und Enkel und die ärztliche Betreuung ist gesichert [21].

Senioren beim Kartenspielen
Türkische Senioren.

Mit der wachsenden Anzahl an Muslima und Muslimen im Seniorenalter muss auch die deutsche Seite auf die kulturell-religiösen Wertvorstellungen der Migrantinnen und Migranten eingehen. Ein erster Schritt dazu ist getan. In Rheinland-Pfalz lässt ein bundesweit einmaliges Pilotprojekt aufhorchen. Menschen mit Migrationshintergrund sollen für Pflegeberufe gewonnen werden. Auch an den letzten Schritt ist dabei gedacht worden: Immer mehr Kommunen richten Gräberfelder für Muslima und Muslime ein [22].

Was vor einem halben Jahrhundert mit der einfachen Unterschrift von Diplomaten begann, hat Auswirkungen bis heute. 50 Jahre »Abkommen zur Anwerbung türkischer Arbeitnehmer« sind Anlass zu einer Reihe von Feierlichkeiten in Deutschland und der Türkei. Sie sind aber auch Anlass in beiden Ländern Bilanz zu ziehen, die kaum unterschiedlicher hätte ausfallen können.

 Im Ergebnis findet sich jede vorzufindende Meinung bestätigt. Die unüberschaubare Zahl an Artikeln und Kommentaren lassen alle Wertungen zu – von »Multikulti ist tot« bis »Multikulti ist nicht totzukriegen«. Letztlich beweist sie jedoch nur eins: die Folgen des Anwerbeabkommens werden auch in Zukunft Deutschland vor manche Herausforderung stellen. Was dabei herauskommen soll? Sevil Özlük, Inhaberin einer Trendagentur formuliert es so:

»Ich wünsche mir für die nächsten 50 Jahre, dass wir es endlich schaffen, miteinander leben zu können, ohne dass als Erstes die Religion und das Herkunftsland im Vordergrund stehen.« [23]

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  1. Gespräch mit Hassan S., 11. 9. 2011.
  2. Südwest Presse, 20. 9. 2011 und Sonntag Aktuell, 25. 9. 2011.
  3. Ebd.
  4. Migrationsbericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung, Nürnberg 2011, S. 209 und Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Grunddaten der Zuwandererbevölkerung in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 5.
  5. Migrationsbericht, S. 227
  6. Vortrag Hans Dietrich von Loeffelholz, 50 Jahre Zuwanderung aus der Türkei im Spiegel der Wirtschafts- und Industriegeschichte Deutschlands, Einführungsvortrag beim 12. SWR-Medienforum Migration in Stuttgart, 17. 5. 2011.
  7. gl. Die Zeit, 15.10.2009 und Bade, K. J. und J. Oltmer: Normalfall Migration. Paderborn 2004.
  8. Loeffelholz, 50 Jahre Zuwanderung.
  9. Die Welt, 8.2.2009.
  10. Die Welt, 17.4.2010.
  11. Deutscher Gewerkschaftsbund Bildungswerk BUND e.V. (Hg.), Forum Migration, Newsletter 02/2011, S.1f.
  12. Die Welt, 8.2.2009.
  13. Loeffelholz, 50 Jahre Zuwanderung.
  14. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010.
  15. Loeffelholz, 50 Jahre Zuwanderung. Vgl. dazu DGB, Forum Migration.
  16. Gespräch mit Hassan S., 11.9.2011.
  17. Stuttgarter Zeitung, 4.10.2011.
  18. Migrationsbericht, S. 58 und 161.
  19. Martina Priessner, Wir sitzen im Süden, pangafilm/ZDF, 2010. Trailer, Stand. 9.10.2011.
  20. Klaus J Bade, Pieter C Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer, Enzyklopädie Migration in Europa: vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2008, S. 1060.
  21. Nah und Fern, Kulturmagazin für Integration und Partizipation, Alt werden in der Fremde, Nr. 34, 2007, S. 13f. Gespräche mit Zehra und Mehmet Kayain, 13. 6. 2009, Alpay G., 3. 2. 2010 und Achmed Ö, 3. 9. 2011.
  22. Development and Migration in International Dialogue (DAMID), Nr. 1/2, Januar/Februar 2010, S. 6.
  23. Cem Özdemir, Wolfgang Schuster (Hg.), Mitten in Deutschland. Deutsch-Türkische Erfolgsgeschichten, Freiburg 2011.