Leben im Provisorium

»Unsere Familiengeschichte ist an und für sich ganz einfach. Am Anfang kam mein Bruder mit dem Vorsatz nur für ein Jahr zu bleiben. Dann kam mein Vater, mit dem Vorsatz: ›nur ein Jahr‹… und aus einem Jahr wurden 45 und dann kam meine Mutter, auch nur für ein Jahr und schließlich kam ich mit 10.« José G.

Kind sitzt auf Koffer

Die ersten Arbeitsverträge ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren zunächst auf ein Jahr festgelegt, konnten jedoch jeweils um weitere 12 Monate verlängert werden. Mit der zeitlichen Ausdehnung veränderte sich auch der Charakter des Aufenthalts. Die Spanier begannen sich mit jedem Jahr im vorübergehenden Provisorium wohnlicher einzurichten. Deutliches Zeichen dafür war die steigende Zahl von Ausländern, die ihre Familien nach Deutschland nachholten [1]. Bis Mitte 1968 folgten 95% der verheirateten spanischen Frauen Ihren Männern ins Ausland[2].

Im Laufe der Zeit, hatten sich die Lebensentwürfe der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verändert. Sie realisierten, dass alle Pläne und Träume nicht durch ein paar Jahre Arbeit in Deutschland zu erfüllen waren. Wenn es schon nicht gelang, relativ bald nach Hause zurückzukehren, so sollte doch zumindest die Familie wieder zusammen kommen. Zudem konnte die Ehefrau am gemeinsamen Lebensglück mitarbeiten und damit den Aufenthalt in Deutschland verkürzen. Gesetzlich konnte jeder, der einen geeigneten Wohnraum nachwies, seine Familie nach einem Jahr Aufenthalt nachkommen lassen, falls man überhaupt eine Wohnung fand. Um endlich wieder zusammen zu sein, nahmen viele Menschen unzumutbare Wohnverhältnisse und Mietwucher in Kauf. Die Vermietung von Kellerlöchern und Dachstühlen hatte Hochkonjunktur.

Da die Spanier in Rheinland-Pfalz nur eine kleine Gruppe unter den andern Nationalitäten darstellten, siedelten sie sich nicht konzentriert in einzelnen Stadtvierteln an. Vielmehr wohnten sie verteilt über die Städte, was die deutsche Sichtweise erheblich beeinflusste. Als marginalisierte Gruppe fielen sie nicht so auf wie andere Migranten-Nationalitäten, die aufgrund ihrer Zahl im Vordergrund standen.

Dennoch beschränkten sich außerhalb der Fabriktore die sozialen Kontakte auf das Notwendigste. Freundschaften, die sich abseits der Kollegialität bildeten, brauchten noch Zeit. Den Feierabend und das Wochenende verbrachten Deutsche und Spanier getrennt voneinander.

»Das Leben spielt sich zwischen dem Arbeitsplatz und der Wohnung der Mitarbeiter ab. Und auch bei besonderen Veranstaltungen, bei Firmenausflügen passierte alles innerhalb der gleichen sozialen Gruppe.«– Aussage einer Spanierin.

Verschiedene Fotografien:

Paar am Tisch
Wieder vereint in Deutschland 1968.
Wand mit Wasserhähnen
Spartanischer Waschraum einer »Gastarbeiter«-Unterkunft.
Die Frauen der Familie vor dem Auto
Alle Frauen der Familie vor dem Auto des Vaters.
Gründung eines Migrantenvereins
Gründung eines Migrantenvereins 1973.

Für die Betreuung der spanischen Bevölkerungsgruppe richteten Wohlfahrtsverbände Beratungsstellen und Freizeitheime ein. Ihre Verteilung war regional unterschiedlich. Für Rheinland-Pfalz gab es 1965 gerade zwei Beratungsstellen mit jeweils einem Berater in Mainz und in Ludwigshafen. Hier befand sich auch das einzige Freizeitheim für Spanier im Bundesland. Wer in Mainz zusammenkommen wollte, musste über die Rheinseite nach Wiesbaden ausweichen.

In Selbstinitiative bildeten sich spanische Vereine oder vereinzelt »Centros Españols«. Hier konnten sich Spanier aus verschiedenen Firmen treffen, spanische Zeitungen lesen und vor allem das Heimweh mit anderen teilen.

Doch auch im fernen Deutschland versuchte die Regierung Francos ihre Landsleute vor politischer Beeinflussung fernzuhalten. Von der spanischen Botschaft organisierte Arbeitsberater und kostenlos verteilte linientreue Zeitschriften sollten die Arbeiter »auf Kurs halten«. Mit Unbehagen verfolgte das Regime den relativ hohen Organisationsgrad der Spanier in der IG Metall. [3]. Man fürchtete, die gewerkschaftliche Arbeit könnte einen revolutionären Funken über die Grenze tragen. Die spanische Botschaft, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die IG Metall hielten mit eigenen Beratern und Schriften dagegen.

Demonstration
Spanische Gewerkschaftsaktion.

Die in Spanien tobenden Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition hatten auch ihre Auswirkungen auf die spanische Gemeinde in Deutschland. Der am 24. Januar 1969 ausgerufene Ausnahmezustand, beendete eine kurze Phase der politischen Öffnung in Spanien. Nach dem sogenannten »schwarzen Freitag« lebten 32 Millionen Spanier wieder unter der Willkür des Staates. Als Reaktion auf die Situation im Heimatland folgten Steine auf das Frankfurter Generalkonsulat. In Solidaritätsorganisationen sammelten spanische Arbeiter Gelder für politische Aktivisten zu Hause [Der Spiegel, 18.9.1972, 39/1972].

Die politische Auseinandersetzung sollte bis zum Tod des Diktators Franco am 1975 anhalten. Erst nach Ende des »Franquismus« konnten sich Spanier in Deutschland offen gewerkschaftlich oder politisch engagieren, ohne Auswirkung auf die Familie, Freunde und Bekannte im Heimatland zu befürchten.

Deckblatt »Der Spiegel«
Auch »Der Spiegel« stellte das Thema unter dem Titel » Es lebe das Dynamit« in den Mittelpunkt seiner politischen Betrachtung ( S. 17.02.1969).

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Quellenangaben

  1. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik S. 105ff. 
  2. Kreienbrink
  3. Gloria Sanz Laufuente: Algunos condicionantes de la comunicacion intercultural de los emigrantes espanoles en alemania (1960-1967).