„Miteinander in die Zukunft“

Festveranstaltung 10 Jahre Online-Migrationsmuseum „Lebenswege“

Es war die Begegnung von Menschen, die den Abend im Foyer des SWR in Mainz zu etwas Besonderem machten. Menschen, die uns durch ihre Geschichten, die sie im Online-Migrationsmuseum „Lebenswege“ erzählen, an ihrem Leben teilhaben lassen. In Film- und Audioporträts berichten sie, warum sie einst ihre Heimat als kleines Kind, als Jugendliche oder Erwachsene verlassen mussten, schicksalhaftes und berührendes auf sich nahmen, um letztlich in Rheinland-Pfalz eine neue Heimat zu finden.

„Miteinander in die Zukunft“ lautete das Motto der Festveranstaltung, die das 10-jährige Bestehen des Online-Migrationsmuseums „Lebenswege“ feierte. Das rheinland-pfälzische Internet-Museum öffnete im Dezember 2009 seine virtuellen Pforten und setzte einen Meilenstein in der Aufarbeitung von Migrationsgeschichte im Internet. Noch heute ist das Projekt das bundesweit einzige, das von einer Landesregierung initiiert und finanziert wird. Kooperationspartner ist der SWR.

„Wenn wir heute den zehnten Geburtstag unseres Online-Migrationsmuseums „Lebenswege“ feiern, dann feiern wir vor allem die Menschen, die als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre eigenen Lebenswege und Lebensgeschichten in unser Online-Museum einbringen. Durch ihre Unterstützung werden im Museum wichtige Momente der rheinland-pfälzischen Migrationsgeschichte bewahrt und mit Leben gefüllt“, eröffnete Integrationsministerin Anne Spiegel den Abend.

Video zur Festveranstaltung

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„Wir brauchen diese Geschichten, weil rund 980.000 Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer heute auf ihre eigene Migrationsgeschichte zurückblicken. Gerade heute sind ihre Erfahrungen wichtig, um die Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und zu zeigen, wie Einwanderung die Gesellschaft bereichert. Denn aktuell gibt es leider immer mehr Stimmen, die sich gegen die Werte unserer vielfältigen und offenen Demokratie richten“, betonte Integrationsministerin Anne Spiegel.

23 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen lassen uns heute an ihrer Biografie und ihrem bewegten Lebensweg nach Rheinland-Pfalz teilhaben.

Am Abend der Festveranstaltung trafen einige davon erstmals persönlich aufeinander. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Gastarbeiter-Generation, der Spätaussiedler-Ära ab 1987 sowie der Menschen, die in den letzten Jahren nach Rheinland-Pfalz vor Krieg, Verfolgung und Misshandlung flüchteten. Unter der Leitung der Beauftragten für Vielfalt und Integration des SWR, Anna Koktsidou (unten rechts), begegneten sie sich auf der SWR-Bühne, tauschten sich über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus und erinnerten sich auch so manch amüsanter Geschichten, die im Film zur Veranstaltung zu sehen sind.

Wie Silva Burrini (links), die als erste Zeitzeugin des virtuellen Museums dort im Audioporträt über ihr Leben und ihr soziales Engagement berichtet. Die heute 79-jährige und noch immer ehrenamtlich engagierte Sozialarbeiterin, kam 1957 als 17-jährige im Rahmen des ersten Anwerbeabkommens, das 1955 zwischen Deutschland und Italien geschlossen wurde, als so genannte „Gastarbeiterin“ nach Freiburg. Jahre später kehrte sie nach Italien zurück, studierte Sozialarbeit um dann im Dienste der Caritas ihr Leben der Unterstützung ihrer Landsleute in Ludwigshafen – insbesondere deren Kindern – zu widmen. „Es war das Schönste in all den Jahren meiner Arbeit mit den italienischen Kindern, das aus Begegnungen Freundschaften wurden. Dabei sind gegenseitige Achtung und Anerkennung zwischen den Menschen das Wichtigste und die Voraussetzung, sich integriert zu fühlen.“

Diese ethischen Werte konnten Gerino (links) und Francesco Barba (rechts) während ihres Interviews im SWR-Foyer nur bestätigen. Die Eltern der Mainzer Geschäftsleute verließen im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien in den 1970er Jahren ihre sizilianische Heimat und fanden in Mainz ein neues Zuhause. Der Vater war für einen Mainzer Glashersteller als Schmelzer tätig, auch die Mutter arbeitete. Die Familie lebte in den ersten Jahren mit ihren fünf Kindern in einer kleinen Wohnung einer Mainzer Hochhaussiedlung. Der Kontakt zu den deutschen Nachbarn war herzlich und verbindlich. Man fühlte sich aufgenommen und wertgeschätzt, Kinderfreundschaften entstanden und das gemeinsame Fußballspielen verband.

Nach der Schulzeit stellte sich natürlich auch für die Barba-Kinder die Frage nach einem Beruf. Gerino wollte Profifußballer werden, die Mutter sprach sich dagegen aus. Er sollte einen Handwerksberuf ergreifen. Mit Fleiß und Disziplin erlernten Gerino und auch sein Bruder Francesco das Friseurhandwerk und legten ihre Meisterprüfung ab. Heute führen die engagierten Mainzer mit Erfolg ihre beiden Friseursalons in der Mainzer Innenstadt. „Tüchtig zu sein, das haben wir von unseren Eltern“, sagt Francesco. Für die Barba-Brüder ist Mainz Heimat. Auch die Eltern sind im Laufe der Jahre in Mainz verwurzelt und können sich ein Leben auf Sizilien nur noch im Urlaub vorstellen.

Viele der heutigen erfolgreichen Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer entstammen Familien, die vor mehr als 60 Jahren aus finanziellen Gründen ihr Herkunftsland verließen, um das Rad des deutschen Wirtschaftswunders in Schwung zu bringen. So auch Miguel Vicente, Kind spanischer Eltern, die im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Spanien in den 1960er Jahren nach Mainz kamen.

Schon als Jugendlicher interessierte sich der studierte Diplom Ingenieur für Politik, war u.a. in der politischen Erwachsenenbildung tätig, später Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Beiräte für Migration und Integration Rheinland-Pfalz (AGARP) und in zahlreichen kommunalpolitischen Tätigkeiten und Funktionen aktiv. Seit 2011 ist er Beauftragter des Landes für Migration und Integration. „Gerade die Folgegenerationen der so genannten Gastarbeiter empfinden sich als Deutsche“, betonte er. „Sie wollen sich von Niemandem das Recht absprechen lassen, Teil dieses Landes zu sein; erst Recht nicht von den rechtspopulistischen Stimmen."

Auf der SWR Bühne begrüßte Moderatorin Anna Koktsidou auch die junge Sängerin Merve Uslu. Die 23-jährige hat türkische Wurzeln. Ihre Großeltern kamen 1964 als Gastarbeiter nach Deutschland. Ihr ist es wichtig, ihre Wurzeln zu kennen und zu ihnen zu stehen. „Die Verortung zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen und zwei Welten gab mir die Zuflucht, nach der ich mich schon immer sehnte“, sagt sie.

Merve studiert Ethnologie und Soziologie an der Universität Heidelberg, singt und ist ehrenamtlich aktiv als Migrations- und Flüchtlingshelferin. Ihre Liebe gehört der Musik. Sie schreibt und komponiert ihre Songs selbst, auf Türkisch, Englisch oder Deutsch. Sie mag es, Sprachen miteinander zu vermischen und stellt sich in einem ihrer Lieder die Frage: Was wäre gewesen, wenn die Großeltern nicht nach Deutschland gekommen und in der Türkei geblieben wären?

Am Abend der Festveranstaltung wurde einmal mehr deutlich, wie sehr Menschen aus anderen Herkunftsländern, ihre Kinder und Enkel zum festen und unverzichtbaren Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Sie haben die Geschichte und die Entwicklung von Rheinland-Pfalz in ihrer Vielfalt mitgestaltet und Wesentliches zum Erfolg, zum Ansehen und zum Wohlstand des Bundeslandes beigetragen. Ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Leistungen sollen durch „Lebenswege“ bewahrt und vor allem für junge Menschen zugänglich gemacht werden.

„Das Online-Migrationsmuseum ist ein Meilenstein in der viel beschworenen Anerkennungskultur für die Leistungen der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und der anderen Einwanderer, denen nicht nur Rheinland-Pfalz so viel zu verdanken hat“, unterstrich Prof. Dr. Meier-Braun, langjähriger Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks Stuttgart (SWR), der bei der Podiumsdiskussion die mediale Perspektive auf das Thema einnahm.

Vergangenheit und Gegenwart verdeutlichen immer wieder, dass wirtschaftliche und religiöse Gründe, Flucht, Vertreibung, Verfolgung und Kriege Auslöser dafür sind, warum Menschen ihre Heimat, ihre Familien und Vertrautes zurücklassen.

Solomon Tsehaye ist einer der tausenden Geflüchteten, der Militär, Gefängnis, Verfolgung und das Leid der Flucht durchlebte. Seit 2014 lebt der junge, eritreische Filmemacher im pfälzischen Kaiserslautern, das zu seiner zweiten Heimat wurde. „Es gibt viele Flüchtlinge, die Kaiserslautern aufgenommen hat“, sagt er. „Ich möchte einfach die Stimme für die anderen sein und ihre Geschichte in meinen Filmen zeigen.“

Der Förderpreis des Integrationsbeirats der Stadt Kaiserslautern ermöglichte es ihm, einen Dokumentarfilm über die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und Migranten in Kaiserslautern zu drehen. „Die Produktion eines interkulturellen Dokumentarfilms ist ein sehr sensibles und komplexes Thema, das auf große Kontroversen in der Bevölkerung stieß. Gerade deshalb war es eine Herausforderung, die Lebensgeschichte von Zugewanderten zu dokumentieren“, sagt er.

Nicht nur auf der SWR-Bühne berichtete er über die dramatischen Zustände in seiner Heimat. In der Sonderausstellung „Fluchtwege nach Rheinland-Pfalz“ gibt Solomon Tsehaye (rechts) Einblicke in seinen Fluchtweg von Eritrea nach Kaiserslautern.

Es war die Sehnsucht nach dem Land ihrer Vorfahren, die Anna Fruk und ihrer Familie 1995 den Impuls gab, ihre russische Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu kommen. Viele ihrer Verwandten lebten bereits in Rheinland-Pfalz. Schon ihre Urgroßmutter, die mennonitischen Glaubens war und ihre Großmutter zog es zurück nach Deutschland. Nach der Ankunft im Aufnahmelager Friedland gelangte die Familie zunächst nach Osthofen und fand schließlich im rheinhessischen Ober-Flörsheim ein neues Zuhause. Für die damals 18-jährige, die keine deutschen Sprachkenntnisse hatte, eine schwierige Situation. Für die Schule war sie bereits zu alt, für eine Ausbildung war ihre damalige Sprachkompetenz nicht ausreichend.

Sehr schnell jedoch lernte sie deutsch. Heute ist sie mit Herz und Kompetenz als Erzieherin tätig, interessiert sich für Kunst, tanzt, singt im Chor und fühlt sich mit ihrem Mann und ihren Kindern in Ober-Flörsheim fest verwurzelt.   

„Kunst verbindet Kulturen“

Das Finale der Festveranstaltung war der Kunst gewidmet. Es trafen geschliffene Worte auf Tanzakrobatik und Gesang.

So brachte der Dichter, Beatboxer und Spoken-Word-Lyriker Dalibor Marković mit gekonnter Ironie seine kroatischen Wurzeln zum Ausdruck. Seit 2002 ist der gebürtige Frankfurter mit seiner Spoken-Word-Lyrik auf deutschen und internationalen Bühnen unterwegs und gibt Workshops an Schulen und Universitäten zum Thema "Poesie verfassen und vortragen". 2014 gewann er zusammen mit der Poetin Dominique Macri den Teamwettbewerb der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaft in Dresden. Am Abend der Festveranstaltung erzählte er, warum Worte und Schreiben für ihn Lebensinhalt wurden.

Viele Nationen sprechen eine Sprache: Hip Hop! Seit über 10 Jahren wirbeln die jungen Aktiven der Mainzer Tanzgruppe A.C.I.M. über die Bühne. Was 2008 als kleines, regionales Integrationsprojekt für Jugendliche begann, entwickelte sich zu einem professionellen Erfolgsprojekt. Seit dem Vize-Weltmeister Titel 2015 gibt es für die Hip-Hopper immer wieder Plätze auf dem nationalen und internationalen Siegertreppchen in den unterschiedlichen Tanzkategorien.

Die derzeit 15 Tänzerinnen und Tänzer haben ihre familiären Wurzeln in der ganzen Welt: Türkei, Bosnien, Italien, Amerika, Mexiko und Deutschland. 

Von Beginn an ist Luana Marini mit A.C.I.M. verbunden, die in Mainz zur Schule ging und studierte. Ein Leben ohne Tanz ist für die junge Lehrerin nicht vorstellbar.

Sich für Menschen einzusetzen, ist der aktiven jungen Frau ein Bedürfnis. Nicht nur für die Kinder der Grundschule, an der sie unterrichtet. Seit mehreren Jahren ist Marini als Honorarkraft im Streetwork der Stadt Mainz aktiv, leitet kostenfreie Tanzworkshops und ist Leiterin der Mainzer Präventionsscouts, speziell geschulte Jugendliche, die sich für die Aufklärung und Information zu den Themen Alkohol und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen engagieren.

Fazit

In den 10 Jahren seines Bestehens hat sich das Online-Migrationsmuseum „Lebenswege“ zu einer zentralen Wissensplattform weiterentwickelt, die in zwei Dauerausstellungen und acht Sonderausstellungen wichtige Phasen rheinland-pfälzischer Migrationsgeschichte durch die Jahrhunderte nachzeichnet.

Seit 2012 bringt die Veranstaltungsreihe „Lebenswege vor Ort – wir schaffen Begegnungen“ Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie die Themen des Museums mit prominenten Politikern, Kulturschaffenden, Medienvertretern und Wissenschaftlern in der analogen Welt zusammen. 19 Veranstaltungen wurden in den vergangenen zehn Jahren realisiert. 14 davon fanden in Form von Workshops und Diskussionsrunden an Schulen statt. „Es ist gerade für die junge Generation wichtig zu sehen, wie unser Bundesland zu dem geworden ist, was es heute ist: Ein weltoffenes, tatkräftiges und zukunftsorientiertes Bundesland“, unterstrich Integrationsministerin Anne Spiegel.

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