Karl Kardinal Lehmann: »Offenheit gelernt«

Der Deutsch-Italienische Anwerbevertrag vom 20. Dezember 1955 markiert den Beginn der modernen Arbeitsmigration nach Deutschland. Wohl den wenigsten der damals Beteiligten dürfte jedoch bewusst gewesen sein, welche tief greifenden gesellschaftlichen Prozesse damit angestoßen wurden. Der ursprünglichen Absicht nach sollte es um eine zeitlich befristete und nach dem Rotationsprinzip organisierte Vermittlung von Arbeitskräften gehen. Tatsächlich aber wurde West-Deutschland zu einem Einwanderungsland. Lange Zeit ist dies kaum wahrgenommen, geschweige denn anerkannt worden. Man wird sagen dürfen: Letztlich hat erst das Zuwanderungsgesetz aus dem Jahre 2004 einen gesellschaftlichen Konsens dokumentiert, der angemessen an der Wirklichkeit Maß nimmt. Nunmehr erkennt Deutschland die Realität der dauerhaften Einwanderung an und beginnt, sich den Herausforderungen der Integration systematisch zu stellen.

Ich will nur wenige Stichworte nennen, um die Brisanz dieser Aufgabe wenigstens anzudeuten. Nach wie vor bestehen – wenngleich nach Einwanderergruppen sehr unterschiedlich ausgeprägte – sprachliche, soziale und kulturelle Barrieren zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Die Arbeitslosigkeit unter den Migranten ist höher als im Durchschnitt der Bevölkerung.

 

Herausforderungen anerkennen

Kinder von Zuwanderern haben größere Schwierigkeiten, schulische Erfolge zu erlangen. Nicht zuletzt bei Einwanderern der 2. und 3. Generation zeigen sich Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen Identität. In manchen Großstädten drohen so genannte Parallelgesellschaften zu entstehen. Auch die religiöse Landschaft hat sich verändert: Mit den Zuwanderern aus der Türkei und aus dem arabischen Raum ist der Islam zu einer neuen Realität in unserer Gesellschaft geworden, so dass wir vor der Aufgabe stehen, das Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit einzuüben.

Es wäre allerdings gänzlich verfehlt, die Zuwanderung, die Deutschland in den letzten 50 Jahren erlebt hat, vor allem von den Schwierigkeiten her zu betrachten. Niemand sollte vergessen, wie viel unser Land den Menschen zu verdanken hat, die zu uns gekommen sind. Nicht nur haben sie in der Zeit des so genannten »Wirtschaftswunders« einen wichtigen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung geleistet. Durch sie ist Deutschland auch bunter und vielfältiger geworden. Zudem haben die Einheimischen gerade im Austausch mit den Zuwanderern jene größere geistige und kulturelle Offenheit erlernt, die es ihnen heute besser ermöglicht, in der globalen Wirklichkeit unserer Zeit zu bestehen. All dies bedeutet eine Bereicherung, für die wir dankbar sein dürfen.

 

Schon immer eine enge Anziehung

Ganz zweifellos trifft dies vor allem auch für die zugewanderten Italiener und für die Italienisch-Stämmigen zu. Viele von ihnen haben eine gelungene Integrationsgeschichte hinter sich. Italienische Namen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und bis hinein in die Reihen des Bundesverfassungsgerichtes sind Zeugnisse für diese Entwicklung. Freilich ist dies nicht nur Ergebnis der Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Immer schon hat es eine enge Anziehung und einen Austausch zwischen Italien und Deutschland gegeben. Hier in Mainz brauche ich nur den Namen Romano Guardini zu nennen, dessen Familie nach Mainz kam, weil der Vater italienischen Wein importierte. Unübersehbar ist gerade auch der Beitrag Italiens zur Alltagskultur unseres Landes, den heute kaum noch jemand missen möchte. Es geht nicht nur um Pizza und italienische Restaurants, sondern auch um italienische Mode, Musik und andere Errungenschaften unseres Lebens.

Als katholische Kirche in Deutschland dürfen wir durchaus einen gewissen Anteil an glücklich verlaufenden Integrationsbiografien für uns in Anspruch nehmen. Jedenfalls war die Kirche von Anfang an bemüht, den humanitären und pastoralen Herausforderungen, die die Zuwanderung aufgeworfen hat, gerecht zu werden. Neben den Arbeitsmigranten stehen dabei auch Flüchtlinge und Asylsuchende, deutschstämmige Aussiedler und irreguläre Zuwanderer im Blick. Auch hier will ich mich mit wenigen Schlaglichtern begnügen:

Durch die Gründung von rund 480 muttersprachlichen Gemeinden für 29 Volks- bzw. Sprachgruppen haben die deutschen Diözesen den katholischen Migranten die Möglichkeit zur Pflege ihrer eigenen religiösen Traditionen und zugleich der Beheimatung unter dem Dach der deutschen Ortskirche erleichtert.

Der Deutsche Caritasverband unterhält eine Vielzahl von Migrations-Beratungsstellen, die allen Zuwandern – nicht nur den katholischen – offen stehen und eine umfassende soziale Begleitung gewährleisten. In besonderer Weise engagieren sich die Caritasverbände der verschiedenen Ebenen auch bei der Erstberatung und bei den Sprachkursen, die nach dem neuen Zuwanderungsgesetz obligatorisch geworden sind. Zum Erfolg dieser Arbeit trägt nicht zuletzt ein Netzwerk ehrenamtlicher Helfer bei, das die professionellen Angebote durch konkrete Unterstützung vor Ort ergänzt.

Ich möchte den Blick darüber hinaus auf die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), die Christliche Arbeiterjugend (CAJ) und den Kolping-Verband lenken, die sich ebenso wie die italienische katholische Arbeiterbewegung ACLI und die spanische Schwesterorganisation HOAC für die Integration der Einwanderer in der Arbeitswelt einsetzen. Hier gibt es auch eine gute und verlässliche Kooperation mit den Gewerkschaften.

Eine besondere Erfolgsgeschichte stellt die vor 30 Jahren gemeinsam von der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutschen Bischofskonferenz und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie in Deutschland gegründete »Woche der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche« dar. Sie ist inzwischen durch die Zusammenarbeit mit vielen kommunalen Gremien, mit Gewerkschaften, Ausländerbeiräten und sozial engagierten Gruppen zu einer starken Bürgerinitiative für Integration und Partizipation der Migranten in Deutschland geworden. Jährlich finden über 2000 Aktionen und Veranstaltungen in über 200 Städten und Gemeinden statt.

 

Durchgangsstation statt Endpunkt

Freilich stehen wir nicht an einem Endpunkt, eher an einer Durchgangsstation. Für eine umfassende soziale, kulturelle und politische Integration der Zuwanderer bleibt noch viel zu tun. Stets neu müssen wir in unserer Gesellschaft – unter Einheimischen wie unter Migranten – für die richtige Perspektive im Umgang miteinander werben: weg von Misstrauen und Abwehr, hin zu einer Anerkennung des Fremden und zur Offenheit gegenüber den sozialen und kulturellen Chancen des Zusammenlebens. Gesellschaftliche Organisationen, Kirchen und Staat sind hier ebenso gefordert wie die vielen Einzelnen und die Familien, die im alltäglichen Leben – in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und in den örtlichen Vereinen – oft ganz selbstverständlich Menschen anderer Herkunft begegnen. Hier wird meist nicht viel über Integration geredet, sie wird Tag für Tag gelebt.

Aber auch die Offenheit füreinander, so sehr sie ein unverzichtbarer Weg der Integration ist, kann nicht schrankenlos sein. Immer mehr Menschen ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass wir einen gesellschaftlichen Konsens über die Grundlagen des Zusammenlebens benötigen. Es bedarf gemeinsamer Werte, die eine Ordnung des Miteinanders tragen. Eine solche gemeinsame Basis ist auch gerade für eine erfolgreiche Integration von fundamentaler Bedeutung. Denn sie trägt dazu bei, dass aus Verschiedenheiten – der Herkunft, der Kultur oder der Religion – nicht feindselige Barrieren werden. Sie bildet den festen Boden, der es erlaubt, dass wir uns aufrichtig dem jeweiligen Anders-Sein stellen und so eine gute gemeinsame Zukunft finden. Unsere kirchliche Gemeinschaft, die Heimat und Nation in ihrer Bedeutung für die Menschen anerkennt, kann und muss durch ihre weltweite Zusammengehörigkeit, nämlich durch ihre wahre Katholizität, die Kraft zu beidem aufbringen, der Anerkennung des Anderen und der engen geschwisterlichen Zusammenarbeit mit anderen Ortskirchen. Für diesen schwierigen, aber auch lohnenden Weg wünsche ich uns allen Kraft, Geduld, Beharrlichkeit und den reichen Segen Gottes.


Porträt Karl Kardinal Lehmann

Karl Kardinal Lehmann 

Bischof von Mainz 

Erfolge der Kirche bei der Integration: Karl Kardinal Lehmann, Inhaber der 10. Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur 2009.

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