Vibonati

Gastarbeiter in Deutschland zwischen 1955 – 1973

Vibonati, ein Dorf in der Provinz Salerno, 1961: Die Gründe, die die Menschen zwischen 1955 und 1973 dazu bewegten, ihre Heimat zu verlassen, waren vielschichtig. Exemplarisch für viele steht der damals 19-jährige Mario d’Andrea aus Vibonati.


»Der Grund, der mich dazu brachte nach Deutschland zu gehen, ist derselbe wie bei vielen anderen Emigranten und zwar: eine unsichere und schlecht bezahlte Arbeit ohne Zukunftsperspektiven. Zu Hause waren noch fünf jüngere Schwestern und Brüder und es fehlte an Geld, sie zur Schule zu schicken und einen Beruf erlernen zu lassen.«

— Mario d’Andrea


Stadtansicht von Vibonati mit Blick auf Kirche
Vibonati

In dieser Zeit verließen insgesamt 92 Menschen das kleine Dorf Vibonati, um in Deutschland eine bessere Zukunft zu finden. Vibonati steht hier stellvertretend für die Lebenssituation vieler Auswanderer, die geprägt war von harter Arbeit und großer Armut. 

Die Möglichkeit in der Fremde zu arbeiten sah man daher als Chance, die eigenen Verhältnisse und die der Familie zu verbessern. 


»Ein Nachbarsjunge (…) wollte Geld für ein Haus sparen, ›Mutter‹, hat er gesagt, ›in Deutschland ist viel Geld, man muss es nur wollen (…)‹. Wir waren aber auch verrückt, (…) Geld für ein Haus in drei Monaten? Wo kann man das schon verdienen? Aber das waren die Hoffnungen (…). Alle kamen mit Hoffnungen.«

— A.K., 57-jähriger Grieche


Aber die Vorstellungen der Menschen, nach kurzer Zeit als »Gast-Arbeiter« in Deutschland wieder in ihre Heimat zurückzukehren, waren vielfach von kurzer Dauer. Die Rückreise wurde immer wieder hinausgezögert und aus Jahren wurden Jahrzehnte. 50 Jahre nach dem Abschluss des ersten Anwerbeabkommens mit Italien soll hier die Geschichte der »Gastarbeiter« zwischen 1955 und 1973 beleuch tet werden, deren Wirken bis heute spürbar ist. Der Anlass für die Anwerbung ausländischer Arbeiter war ein Mangel an deutschen Arbeitskräften. Diesem Mangel stand die Entwicklung einer stetig wachsenden Wirtschaft gegenüber. Durch ein System von gesetzlichen und vertraglichen Bindungen sollten Ausländer diesem Missverhältnis entgegenwirken. Weiterführende sozialpolitische oder infrastrukturelle Konzepte wurden nicht entwickelt, da eine dauerhafte Beschäftigung der Arbeiter nicht vorgesehen war. Die Planungen der »Gastarbeiter« waren ebenso kurzfristig. Sie gingen von einer Rückkehr in ein bis zwei Jahren aus.


»Unsere Wirtschaft wäre in den letzten Jahren in ernstliche Schwierigkeiten geraten, wenn nicht die Ausländer in die Bresche gesprungen wären.«

— Landesarbeitsamt Baden-Württemberg, 1963


Drei Gastarbeiter beim Straßenbau
Strassenbauarbeiter in den 1960er-Jahren. © HDG BW
Drei Packerinnen am Arbeitsplatz
Packerinnen in der Bekleidungsindustrie in den 1960er-Jahren.

Da der Bedarf an Arbeitskräften kontinuierlich stieg, schloss die Bundesrepublik auch mit anderen Staaten bilaterale Regierungsvereinbarungen ab. Dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien vom 20. Dezember 1955 folgten Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Portugal (1964), Tunesien und Marokko (1965) sowie Jugoslawien (1968).

Unterzeichnung des Anwerberabkommens mit Italien
Unterzeichnung des Anwerberabkommens mit Italien am 20.12.1955.

Die mit der Anwerbung verbundenen Probleme, wie z.B. die Bereitstellung von Wohnraum, wurden als gering erachtet, da (…)   

»ein Rückgriff auf Italiener keine Wohnungsbauballung verursacht, (…) sondern die Bereitstellung von Baracken im allgemeinen ausreicht.« Industriekurier vom 4.10.1959

Den größten Nutzen sah man in der zeitlichen und lokalen Mobilität der »Gastarbeiter«: Sie beruhte vor allem darauf, dass die Ausländer meistens ohne Familie und bindende Ortsansässigkeit und durch die befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis jederzeit versetzbar waren. Weitere Vorteile gab es bei Sozialversicherungs- und Krankenkassenbeiträgen, die auch von »Gastarbeitern« entrichten werden mussten.


»(Das) Lebensalter der ausländischen Arbeitnehmer wirkt sich z.Zt. vor allem für die deutsche Rentenversicherung sehr günstig aus, weil sie weit höhere Beiträge von den ausländischen Arbeitnehmern einnimmt, als sie gegenwärtig an Rentenleistungen für diesen Personenkreis aufzubringen hat.«

— Kattenstroth, Staatssekretär im Arbeitsministerium, März 1966


AOK Anzeige

Insgesamt kamen in dieser 18-jährigen Anwerbe­phase ca. 14 Millionen Menschen nach Deutschland. Davon gingen rund 11 Millionen im selben Zeitraum wieder zurück. Bis 1960 stieg die Anzahl der ausländischen Bevölkerung auf 330.000. Der Höchststand von fast 2,6 Millionen wurde 1973 erreicht. Die ungünstige Beschäftigungssituation und die wachsende Arbeitslosenrate waren unter anderem Gründe, die schließlich am 23.11.1973 zum »Anwerbestopp« führten.

PfeilNach oben